Essay

05. Jan. 2018

Fröhliche, verbohrte Nationalisten

Die katalanischen Separatisten haben Unrecht. Trotzdem sollte die EU helfen

Der katalanische Nationalismus trägt kein böses Gesicht; er ist weder antieuropäisch noch fremdenfeindlich. Und doch ist er töricht; Europa braucht keine neuen Nationen. Die EU sollte sich in den Konflikt einmischen, als Makler zwischen der verbohrten Madrider Regierung und den fröhlichen, aber ebenso verbohrten katalanischen Separatisten.

Es begann wie bei Asterix und Obelix. Ein kleines Städtchen – kein gallisches, sondern ein katalanisches – erhob sich gegen die Zentralmacht, gegen Madrid. Das geschah im Jahre 2009. In der Gemeinde Arenys de Munt befindet sich unter der Rambla mit ihren Platanen ein verrohrter Wasserlauf. Wenn alljährlich im Herbst gewaltige Mengen Regens niedergehen, kann das Rohr die Wasser nicht mehr bewältigen, die Rambla wird überflutet und die prachtvollen Platanen drohen zu ertrinken. Schon lange wurde in der knapp 9000 Einwohner zählenden Gemeinde darüber debattiert, wie dem Missstand abzuhelfen sei. Dann kam die rettende Idee: Nicht Arenys de Munt, sondern Madrid sei schuld an der Misere.1 Es fehlten die finanziellen Mittel, um die Leitung zu erneuern, weil – so der damalige Bürgermeister Carles Morà – „wir viel mehr Geld dorthin überweisen, als wir zurückbekommen“.

So bereitete der Bürgermeister eine Volksabstimmung vor mit dem Vorschlag, die Gemeinde solle sich künftig selbst verwalten. Von Teilen der Bevölkerung wurde er begeistert unterstützt, die Unabhängigkeit schien der endlich gefundene Stein der Weisen zu sein. Die Abstimmung fand am 13. September 2009 statt. 96 Prozent stimmten für die Unabhängigkeit. Allerdings beteiligten sich nur 41 Prozent der Wahlberechtigten an dem Urnengang. Mit anderen Worten: Nur 39 Prozent hatten für die Loslösung von Madrid gestimmt. Wie oft in aufgewühlten Situationen zählte aber nur der leidenschaftliche Wille. Der Kampf um die Unabhängigkeit verselbstständigte sich. Vier Jahre später, am 13. September 2013, zerschnitt die Gemeinde das Band zum spanischen Zentralstaat und erklärte sich zum „freien und souveränen Territorium Kataloniens“.

Das klingt hochtrabend, etwas aufgeplustert, ja unfreiwillig komisch. Und es erinnert ein wenig an die Ortseingangsschilder zahlreicher deutscher Gemeinden, die sich vor etwa 30 Jahren Schwarz auf Gelb zur „atomwaffenfreien Zone“ erklärten. Doch in Katalonien blieb es nicht bei symbolischen Gesten. Der Gemeinde Arenys de Munt folgten viele weitere Städte und Dörfer – und am Ende stand der Versuch der katalanischen Regierung unter Carles Puigdemont, ganz Katalonien aus dem spanischen Staat herauszulösen. Obwohl das Bemühen der Katalanen, mehr Autonomie oder gar die volle staatliche Souveränität zu erlangen, eine sehr lange Geschichte hat, wurden Europas Politiker und Öffentlichkeiten von dem furiosen Nationalismus der Katalanen vollkommen überrascht. Und zwar deswegen, weil der katalanische Konflikt so gar nicht in die gegenwärtige europäische Krisenlandschaft zu passen schien.

Sezessionismus und Nationalismus tragen gemeinhin ein böses Gesicht, sie sind atavistisch, rückwärtsgewandt, fremdenfeindlich. Das gilt für die Separatisten im Donezbecken ebenso wie für die gegenwärtigen Regierungen in Polen und Ungarn. Es gilt aber auch für die Lega Nord in Italien, die den nördlichen Reichtum aggressiv gegen den armen Süden des Staates verteidigen will. Gerade haben in zwei – unverbindlichen – Referenden in Venetien und der Lombardei weit mehr als 90 Prozent der Abstimmenden für deutlich mehr Autonomie, vor allem in Finanzfragen, votiert. Dieser faktische Separatismus ist ebenso aggressiv, unfroh und antikosmopolitisch wie der jahrzehntelange blutige Kampf von ETA und IRA für die Unabhängigkeit des Baskenlands und Nordirlands. Oder wie der Südtiroler Bomben-Separatismus vor fast 60 Jahren.

Der katalanische Nationalismus fiel in Europa lange Zeit nicht unangenehm auf, weil er – darin dem schottischen nicht unähnlich – gut gelaunt, weltoffen und ausdrücklich proeuropäisch daherkam. Von ihm schien nichts zu befürchten zu sein. Dass nun ausgerechnet die Katalanen das – durch eine lange sich hinschleppende Regierungsbildung ohnehin geschwächte – westliche EU-Land Spanien in eine veritable Staatskrise gestürzt haben, hat in Europa fast alle völlig überrascht. Ein hoher EU-Funktionär sprach für viele, als er kürzlich sagte, angesichts der wahrlich reichhaltigen Krisenlandschaft der EU sei der eskalierte Katalonien-Konflikt „so überflüssig wie ein Kropf“. Mag sein. Er ist nun aber einmal Wirklichkeit. Und überraschend kann er nur in den Augen derer sein, die ernsthaft dem Kinderglauben anhingen, ein einmal erreichtes Niveau europäischer Supranationalität sei unwiderruflich gesichert.

It’s the history, stupid

Nationen sind immer auch „imagined communities“ (Benedict Anderson), erfundene Gemeinschaften. Und gerade im Beschwören scheinbar uralter Traditionen trägt der auf Abspaltung zielende Nationalismus meist ausnehmend aggressive Züge. Das lassen ihm aufgeklärte Zeitgenossen nicht durchgehen, sie halten seinen Bezug auf Geschichtliches für illegitim. Die Konflikte der Gegenwart seien im Kern immer gegenwärtige Konflikte. Sie müssten daher heute, und das heißt auch: ohne Rückgriff auf die Geschichte angegangen werden. Wer das meint, übersieht aber den Trugschluss, den das Wort „­Vergangenheit“ enthält: Was einmal geschah, ist nie vergangen. Der heutige katalanische Konflikt ist die aktuelle Endmoräne eines jahrhundertealten Problems der Iberischen Halbinsel.

Der Romanist Werner Krauss sagte einmal über Spanien: „Kein zweites Volk hat mit solcher Leidenschaft am Zeiger seiner Geschichtsuhr sein gegenwärtiges Schicksal abzulesen versucht.“2 Dass das auch heute noch gilt, zeigt der Konflikt zwischen Katalonien und der spanischen Zentralmacht. Katalonien ist heute eine von 17 Regionen oder Autonomen Gemeinschaften, in die der Staat gegliedert ist. Es liegt am nordöstlichen Rand und umfasst 6,3 Prozent des spanischen Territoriums. Doch im Gegensatz zu dieser relativen Kleinheit steht die historische Bedeutung Kataloniens. Lange bevor es das streng von Madrid aus regierte Spanien gab, war Katalonien eine bedeutende Macht. Von 1137 an entstand unter katalanischer Führung eine Staatengemeinschaft, die sich später durch dynastische Verbindungen zur führenden Macht des westlichen Mittelmeerraums entwickelte, mit eigener Währung. Als Macht des Handels und des Austauschs war sie nach außen hin orientiert, selbstbewusst und der Welt gegenüber offen. Als sich später vom Inneren des Landes her Kastilien zum Zentrum aufschwang, einen scharfen Unitarismus erzwang und in diesem Zuge auch das Castellano, das Kastilische, zur verbindlichen Sprache erhob, gab es überall an den Rändern der Iberischen Halbinsel Widerstand. Nur Portugal gelang 1640 die Rückkehr zum eigenen Nationalstaat. Der Widerstand in den anderen Regionen hielt dennoch an.

Ein Feind der Vielfalt

Im Baskenland war und blieb der Widerstand ethnisch motiviert, was ein Grund dafür war, dass er nach innen orientiert und fremdenfeindlich ausfiel und dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine barbarische, menschenverachtende Grausamkeit an den Tag legte. Den Katalanen dagegen ging es lange nicht um Sezession um jeden Preis. Ihr Selbstverständnis war nie ­ethnisch, sie verstanden sich eher als Kulturnation. Sie wollten ihre alten Rechte der Selbstverwaltung wiederhaben.

Im Spanischen Erbfolgekrieg zu Anfang des 18. Jahrhunderts stand die Mehrheit der Katalanen auf der Seite der Verlierer. Der siegreiche Philipp V. marschierte am 11. September 1714 in Barcelona ein und schaffte mit einem Schlag alle noch bestehenden Institutionen katalanischer Selbstverwaltung ab. Ein Ereignis, das sich tief in der Erinnerung der Katalanen erhalten hat: der 11. September ist der fast rauschhaft gefeierte Nationalfeiertag, die Diada Nacional de Catalunya. Wie öfters in der Geschichte wurde der Tag einer großen Niederlage zum Tag eines Neubeginns verklärt.

Lange wollten die Katalanen keine Abspaltung, sondern Selbstverwaltung. Im 19. Jahrhundert kam es zu mehreren Erhebungen und Aufständen gegen Madrid. Eine Komponente dabei war immer das katalanische Überlegenheitsgefühl. Während Madrid als verschlossen, verzopft und korrupt galt, begann in Katalonien früh die Industrie zu erblühen und es entstand ein Bürgertum – kleine Leute wie Großbürger, die sich nicht (nur) als Bourgeois, sondern entschieden auch als Citoyens verstanden. Drei ganz unterschiedliche Lager unterstützten die Bewegung für mehr Autonomie: das Bürgertum, ein Teil des Klerus und das entstehende Proletariat. Schon 1836 riefen Arbeiter auf den Straßen Barcelonas: „Es lebe die katalanische Republik!“ Potenziell stark war diese Bewegung nicht zuletzt deswegen, weil sie von unterschiedlichen Kräften getragen war, vom Klerus bis zu den Anarchisten. Dass die heutige Sezessionsbewegung ein so munteres Gesicht trägt, rührt auch daher. Allerdings führte diese Vielfalt auch zu seltsamen Bündnissen und einem mitunter bizarren Überschwang. Es herrschten, schrieb der Historiker Pierre Vilar, „ein mystischer Patriotismus, moralischer Purismus und ein naiver guter Wille auf sozialem Gebiet“.3

Nach dem Ende einer acht Jahre andauernden Diktatur unter General ­Prima de Rivera schlug 1931 die Stunde der Katalanen. Spanien wurde Republik, und Katalonien erhielt seine volle Selbstbestimmung zurück. Die Gesamtheit der Selbstverwaltungsinstitutionen, die Generalitat de Catalunya, wurde wiederhergestellt. Doch nur für wenige Jahre. Als Francisco Franco und seine Falange 1939 den Bürgerkrieg gewonnen hatten, wurden in Katalonien, das bis zuletzt für die Republik gekämpft hatte, alle Autonomierechte augenblicklich kassiert. Fast vier Jahrzehnte lang, bis zu Francos Tod 1975, blieb das Katalanische eine geächtete Sprache. Und noch heute denken viele Katalanen sofort an Franco, wenn von Madrid – der Hauptstadt eines demokratischen Staates – die Rede ist. Weil Franco den spanischen Unitarismus in unerbittliche Höhen trieb, hat der Zentralstaat seitdem einen schlechten Ruf. Er steht – vor allem in Katalonien – immer im Verdacht, das Zentrum gegen den Rest des Landes auszuspielen. Und ein Feind der realen spanischen Vielfalt zu sein.

Nach Gutsherrenart: die Torheit der Regierung in Madrid

Und tatsächlich bewies der Zentralstaat in der neubegründeten Demokratie, dass er nicht fähig war, die Wunden zu heilen, die der herrische Unitarismus geschlagen hatte. Die ersten demokratischen Regierungen wollten so viel Unitarismus wie möglich retten; die beste Lösung, eine Föderalisierung Spaniens, fassten sie nie ins Auge.

Kaum war aber der Diktator tot, erschallte vor allem, aber nicht nur in Katalonien, der Ruf nach Autonomie. Wie aus dem Nichts wurde die Diada des 11. September 1977 mit mehr als 1,5 Millionen Teilnehmern zu einer der größten Demonstrationen der spanischen Geschichte. Das beeindruckte. Es wurde ein Prozess der Regionalisierung eingeleitet – ohne ihn wäre es zu Gewalt gekommen. Das Katalanische wurde schnell wieder erlaubt (heute ist es gleichberechtigte Amts-, Schul- und Universitätssprache), es gab katalanisches Fernsehen, und das Teatro Lliure, das erste Theater, in dem Katalanisch gesprochen wurde, eröffnete in Barcelona. Als König Juan Carlos Katalonien besuchte und bei einer öffentlichen Rede einige Sätze auf Katalanisch sprach, war der Jubel riesengroß. Alles schien sich zum Guten zu wenden.

Doch als es nicht mehr nur um die Software, sondern um die Hardware ging, als nicht mehr Sprache und Kultur im Mittelpunkt standen, sondern Politik und Wirtschaft, wurde es schwierig. Die Regierung in Madrid bremste, wo sie nur konnte. Jahrelang zogen sich die Verhandlungen über das Autonomiestatut hin. Und man verbiss sich in die hochsymbolische Frage der Nation. Im katalanischen Entwurf für das Statut hieß es: „Katalonien ist eine Na­tion.“ Im endgültigen Statut fand man zu einer quälend umständlichen Formulierung: „Katalonien als Nationalität übt seine Selbstregierung in der Form einer Autonomen Gemeinschaft in Übereinstimmung mit der Verfassung und mit dem vorliegenden Statut aus, das seine grundlegende Identitätsnorm darstellt.“

Das eigentliche Problem bestand darin, dass die Regierung in Madrid nicht bereit war, den Senat zu einer Länderkammer umzubauen. Das hätte die zen­trifugalen Kräfte der Autonomiebewegungen zurückbinden können. Stattdessen verhandelte Madrid mit den Autonomen Gemeinschaften in gewisser Weise nach Gutsherrenart. Zwar machte die Zentralregierung beträchtliche Zugeständnisse – im Falle Kataloniens erlaubte sie etwa eine eigene katalanische Polizei und bewegte sich auch, wenngleich nur in engen Grenzen, in der Frage relativer Steuerautonomie für die Regionen. Katalonien erhielt Autonomie unter anderem in Fragen der Stadtplanung, der Gemeindegrenzen, der öffentlichen Arbeiten, in Landwirtschaft, Kultur, Forschung und im Eisenbahnwesen. Aber es war kein ­Dialog, sondern ein Gespräch von oben nach unten. Im Kern war die Zentralregierung nur bereit, den Autonomen Gemeinschaften eine abgeleitete Staatsgewalt zuzugestehen. Unterschiedlichen Regionen gestand sie, je nach Druck, unterschiedliche Kompetenzen zu. Sie verhandelte vertikal mit den Regionen, horizontale Verbindungen der Regionen untereinander waren nicht vorgesehen. Doch nur das hätte ihnen ein spezifisches Gewicht geben können. Auch wenn die Regierung des Sozialisten José Zapatero vorübergehend auf die Regionen zuging, blieb es am Ende dabei, dass Madrid das Heft in der Hand behielt. Das alte Zentrum zentralstaatlicher Macht wollte keine föderale Reform, sondern einen besseren Unitarismus. Man wollte nicht verstehen, dass gerade in modernen Zeiten der Unsicherheit – siehe Finanzkrise – Zentrum und Peripherie eine geschmeidige Beziehung gegenseitigen Vertrauens und wechselseitiger Kompetenzübertragung eingehen sollten.

Jetzt hat der Starrsinn beider Seiten zu einer Eskalation geführt, die man im demokratischen Europa nicht mehr für möglich gehalten hätte. Ohne das geringste Gespür für das kostbare Gut einer Legitimität, die auch anerkannt wird, besteht Ministerpräsident Mariano Rajoy auf einer Rechtsposition, die von der spanischen Verfassung sicher abgedeckt ist. Seine Partei, der Partido Popular, ging aus einer Partei hervor, die im Erbe des Franco-Regimes stand. Schon deswegen hätte er sich nicht auftrumpfend verhalten dürfen. Eine besondere Blüte ist die Aufhebung des Stierkampfverbots, das die katalanische Regierung 2010 beschlossen hatte. Das spanische Verfassungsgericht ließ den Stierkampf mit der Begründung wieder zu, er sei nun einmal spanisches „Kulturgut“. Rajoy pocht stets nur auf das Gesetz. Im Interview sagte er: „Der einzige Plan, den wir haben, ist, dafür zu sorgen, dass die künftige katalanische Regierung sich an die Gesetze hält. (…) Jeder kann seine eigene politische Überzeugung vertreten, wie auch immer sie aussehen mag. Aber alle müssen die Gesetze respektieren, sonst leben wir wie im Wilden Westen.“4 Es gibt Situationen äußerster Spannung, in denen der Bezug auf die Buchstaben des Gesetzes und der Verfassung nicht alles sein kann: dann nämlich, wenn die Staatsgewalt „systematisch Gewalt anwenden muss, um sich durchzusetzen“.5 Von diesem Moment ist Spanien nicht weit entfernt. Die spanische Regierung braucht ein Verfahren, das die andere Seite einbezieht. Die Durchsetzung des Rechtsstandpunkts garantiert nur eines: die Verlängerung eines lähmenden Konflikts.

Romantisches Revolutionsspiel: die Torheit der Nationalisten

Doch die Sturheit Madrids setzt die katalanischen Nationalisten keineswegs ins Recht. Denn unterdrückt ist Katalonien wahrlich nicht. Die Region, Barcelona voran, prosperiert (Chemie, Pharmazie, Dienstleistungen, Automobilindustrie). Und sie ist mit der Zentralregierung keineswegs in einer mörderischen Transferunion verbunden, die die Katalanen an den Bettelstab brächte. Die kulturelle und sprachliche Autonomie ist durchgesetzt, und über weitere Selbstbestimmungsrechte ließe sich mit einer nicht verstockten Zentralregierung leicht reden. Dass Spanien 2017 den katalanischen Film „Verano 1993“ ins Rennen um den Oscar geschickt hat, spricht auch nicht gerade für eine Missachtung katalanischer Belange. Ebenso war der Versuch, Katalonien auf dem Umweg über die EU mehr Gewicht zu geben, durchaus erfolgreich. Denn EU-Dokumente, die Katalonien betreffen, werden in Brüssel stets ins Katalanische übersetzt. Katalonien und das Baskenland dürfen in Fragen ihrer Belange an den Ministerratstreffen der EU teilnehmen. Die EU fördert die katalanische Kulturszene und verfügt in Barcelona über eine der ganz wenigen Vertretungen der EU-Kommission. Und in mehreren europäischen Hauptstädten, darunter auch in Berlin, unterhält Katalonien eine Vertretung, aus der man gern eine Botschaft machen würde.

Wie im Rausch

Angesichts dieser Wirklichkeit hat der sezessionistische Furor vieler Katalanen durchaus etwas Verrücktes, jedenfalls ist er schwer verständlich. Am Materiellen, an der Hardware kann es nicht liegen. Es ist, als hätte sich ein Teil der Katalanen in einen Rausch hinein mobilisiert. Die volle Souveränität ist zu einer fixen Idee geworden. Diejenigen, die ihr anhängen, sind durch Argumente und Fakten kaum zu beeindrucken. Dass es in fast allen regionalen und kommunalen Volksabstimmungen nur eine – zwar beträchtliche – Minderheit war und ist, die den katalanischen Staat will, ficht sie schlicht nicht an. Ebenso wenig der Umstand, dass ihr Wunsch, Spanien zu verlassen und in die EU aufgenommen zu werden, von dieser seit eh und je abschlägig beschieden worden ist. Wenn man es gut meinte mit den katalanischen Separatisten, könnte man sagen, dass sie ein romantisches Revolutionsspiel aufführen. Es ist kein Zufall, dass es der kleinen linksradikalen Partei Candidatura d’Unitat Popular (CUP) gelang, mit ihrer flammenden Unbedingtheit die anderen Parteien vor sich herzutreiben.

Die Separatisten ventilieren einen mythischen, ja fast mystischen Begriff von Volk, der in der Geschichte schon oft Gewalt befeuert hat. Auf vollkommen naive Weise glauben sie, die Unabhängigkeit werde über Nacht alle ihre Probleme lösen. Ein bisschen ist es wie bei Pippi Langstrumpf: Man träumt von der Rückkehr in eine angeblich ursprüngliche Gemeinschaft, von der Schaffung einer Heimat, die erst dann erblühen kann, wenn die eisigen Winde aus Madrid gestoppt sind. Und man will sich partout nicht auf den schwierigen ­realpolitischen Weg begeben, Kompromisse auszuhandeln. Kompromisse, ohne die die vielen aus Kastilien und dem übrigen Spanien zugewanderten Bürger Kataloniens brüskiert würden.

Dass die katalanischen Sezessionisten von einem friedlichen Eigenstaat träumen, macht sie nicht weniger töricht. Dieser Nationalismus trägt, so selbstbewusst er sich auch gibt, zur Zerstörung des Politischen bei. Schon allein dadurch, dass in Katalonien heute alle anderen wichtigen Fragen vollständig von der Tagesordnung verschwunden sind. Die Parteien, die für ein unabhängiges Katalonien kämpfen, sind sich in diesem Ziel zwar einig, ansonsten aber ganz unterschiedlicher Ausrichtung. Alle diese Unterschiede werden im nationalistischen Furor geschluckt. Die Nation ist aber nicht alles, noch nicht einmal das Wichtigste. Die starke Minderheit der katalanischen Abspaltungsbewegung verhindert, dass die Region ihre größeren, ihre alltäglichen Probleme angeht: Arbeit, Soziales, Infra­struktur, Bildung, Digitalisierung und insgesamt die Frage, wie die Region in einer schwankenden Welt bestehen kann. Man sollte aber gelernt haben: Wo immer die – ethnisch oder kulturell begründete – Nation in der Geschichte Europas über alles ging, kam nichts Gutes dabei heraus. Europa braucht keine neuen Nationen. Es passt gut ins Bild, dass die Desinformationskräfte Russlands auch in Katalonien aktiv sind. Machtvolle Abspaltungstendenzen in Spanien lassen, so hofft man wohl in Russland, die Annexion der Krim in einem besseren Licht erscheinen. Und dass der Katalonien-Konflikt das gerade der Wirtschaftskrise entkommene Spanien destabilisiert, kommt Moskau ebenfalls gelegen.

Die gefährliche Diskretion der Europäischen Union

Die EU steht heute unter höchster Spannung. Nicht zuletzt trägt dazu ein neuer Nationalismus bei, der mal auf einen neuen Staat, mal auf die Renationalisierung eines bestehenden Staates zielt. Katalonien hat nun gezeigt, dass die nationalistische Torheit auch friedliche, vermeintlich weltoffene Wege gehen kann. Wird also, traditionell gesprochen, der Bestand der EU von rechts und von links zugleich, von Dumpfen und von Kosmopoliten infrage gestellt und angenagt? Bedroht das die Existenz der Europäischen Union?

Vielleicht lernen wir jetzt nachhaltig, wie wenig Sinn es hat, im Interesse von Europas Stabilität zu versuchen, der EU eine endgültige Gestalt zu geben, hinter die nicht mehr zurückgefallen werden kann. In jeder Stabilität steckt zukünftige Instabilität. Der Krisenmodus, auch der extreme Krisenmodus, ist der europäische Normalfall. Das müssen wir nach dem Ende des Traumes vom immerwährenden postsowjetischen Frieden endlich einsehen und beherzigen. Die unvollkommene, aber unverzichtbare EU kann und muss mit solchen Krisen umgehen, sie muss sie bearbeiten und zu lösen versuchen – muss aber wissen, dass sie das nur auf unvollkommene Weise tun kann. Was Christoph Möllers auf Katalonien bezogen gesagt hat, gilt für das gesamte Territorium der EU: „Für jeden Beitrag zur Katalonien-Krise gibt es ein einfaches Qualitätskriterium. Wenn er gelingt, sieht er ein Problem, wenn er misslingt, nur eine Lösung. Auf die Katalonien-Frage gibt es keine einfache Antwort. Weder der legalistische Hinweis auf die spanische Verfassung noch demokratisches Pathos zugunsten der Katalanen treffen den Punkt.“6

Die EU hat sich nicht nur in Gestalt ihres Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker dafür entschieden, in der Katalonien-Frage eindeutig die Partei der Madrider Zentralregierung zu ergreifen. Da die spanische Verfassung eine Abspaltung einer Region nicht vorsieht, hat die Kommission damit recht. Und sie hat recht, wenn sie auf die so genannte Prodi-Doktrin verweist. Ihr zufolge gilt in der EU das Prinzip der „beweglichen Vertragsgrenzen“: Spaltet sich Katalonien ab, wird Spanien eben kleiner – ein neuer, von der EU anerkannter Staat entsteht aber nicht.

Dennoch war es nicht klug, sich so festzulegen. Um die katalanischen Sezessionisten ins Lächerliche zu ziehen, sagte Juncker in der hochfahrenden Art, die ihm mitunter eigen ist, die EU bestehe aus 27 Staaten, nicht aus 98. Und er bemühte auch das verräterische Argument, ein katalanischer Staat wäre zu klein für eine Mitgliedschaft in der EU. Das erklärt ein Mann, der lange Ministerpräsident eines EU-Mitgliedstaats war, in dem nicht einmal 600 000 Bürger leben. Katalonien hat dagegen fast das 13-Fache an Einwohnern! Und das sagt der Kommissionspräsident einer Union, in der 13 Staaten, also fast die Hälfte der Mitglieder, weniger Einwohner vorzuweisen haben als Katalonien. Schon so gesehen, macht die EU keine gute Figur im Umgang mit der in ihrer Dimension überraschenden Katalonien-Frage.

Unionsbürgerschaft ist mehr als eine Dekoration

Gewiss, die europäischen Institutionen haben nicht unrecht mit ihrer Befürchtung, ein Brüsseler Ja oder auch nur Jein zum katalanischen Sezessionismus könne auf separatistische Bewegungen überall in Europa wie ein Brandbeschleuniger wirken. Dennoch haben sie mit ihrer einseitigen Parteinahme für Madrid etwas sehr Wichtiges übersehen.7 Die Tatsache nämlich, dass die europäische Gemeinschaft schon von ihrer Gründung an keine klassische internationale Organisation ist, in der sich Staaten und nur Staaten zusammentun, um bestimmte Ziele effektiv zu verfolgen. Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft, in der das Unionsrecht unmittelbar – das heißt ohne Vermittlung der Mitgliedstaaten – Rechte und Pflichten von Einzelnen begründet. Schon 1963 hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes betreffe „die der Gemeinschaft angehörigen Einzelnen unmittelbar“. Denn der Vertrag über die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft sei „mehr als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragschließenden Staaten begründet“. Seit dem Vertrag von Maastricht (1992) gibt es folgerichtig eine Unionsbürgerschaft. Jeder Bürger der EU ist nicht nur Bürger seines jeweiligen Staates, er steht gewissermaßen auch reichsunmittelbar zur EU. Für die EU müssen die Belange der ihr angehörenden Nationalstaaten ebenso zählen wie die Belange der einzelnen Bürger. In diesem Sinne ist die nun einmal von Anfang an supranational angelegte europäische Gemeinschaft ein Vorgriff auf historisch neue Formen der Assoziation. Die EU kann davon nicht lassen, ohne ihr Gesicht, ihre Substanz, ihre Seele und ihre historische Besonderheit zu verlieren.

Doch genau das tut sie im Falle der Katalonien-Krise. Sie verteidigt, so der Völkerrechtler Bardo Fassbender, „wie eine internationale Organisation alten Stils allein und kompromisslos die Positionen ihres Mitgliedstaates Spanien“. Sie fällt damit hinter sich selbst zurück. Gewiss, die EU-Kommission und viele EU-Akteure haben versucht, über diplomatische Kanäle Einfluss auf die starrsinnigen zentralspanischen wie katalanischen Kämpen zu nehmen. Das ist aller Ehren wert. Aber es genügt nicht. Die Zurückhaltung, welche die EU sich in dieser Frage auferlegt hat, ist nicht (nur) ein Zeichen von Diskretion. Sie dokumentiert auch ein Versagen. Es hat sich gezeigt, dass die Unionsbürgerschaft – die mehr als eine europäische Dekoration sein sollte – in einem aktuellen Konflikt von EU-Bürgern mit dem eigenen Staat schlicht keinen eigenen Wert hat. Bardo Fassbender: „Die unmittelbare Rechtsbeziehung der Bürger zu ‚ihrer‘ Union hat hinter das Recht des Mitgliedstaates zurückzutreten, der Panzer der nationalstaatlichen Souveränität wird wiederhergestellt.“ Willkommen im 19. Jahrhundert!

Im Augenblick ist der spanisch-katalanische, der kastilisch-katalanische Konflikt heillos verkantet. Man sollte nicht auf das allmähliche Erlahmen der autonomistischen Energie der Katalanen hoffen. Die EU sollte sich einmischen, ohne Angst vor Kettenreaktionen. Und sie sollte damit zu dem werden, was sie auf dem Papier längst ist: ein mit Autorität ausgestatteter Makler zwischen den berechtigten Belangen der unbelehrbaren Madrider Regierung und den berechtigten Belangen des fröhlichen, aber ebenso unbelehrbaren katalanischen Nationalismus. Die EU muss und kann das Anliegen der separatistischen Bürger ernst nehmen. Hier kann die EU ihre supranationale Autorität beweisen, die sie den Verträgen zufolge längst besitzt. Dann kann sich ein – zwar liebenswerter, aber letztlich doch unzeitgemäßer – Nationalismus als Treibsatz erweisen, der die europäische Einigung endlich wieder einmal ein Stück voranbringt.

Thomas Schmid ist Publizist und war Chefredakteur sowie ­Herausgeber der WELT-Gruppe.

  • 1Siehe Sebastian Schoepp: Oben bleiben. Wer zu den katalanischen Separatisten fährt, trifft auf friedliche, furchtbar nette Menschen. Wer mit ihnen dann über die Unabhängigkeit spricht, taucht ein in eine Gefühlswelt, die mitunter kuriose Züge trägt, Süddeutsche Zeitung, 27.10.2017.
  • 2Zitiert nach Horst Hina: Kastilien und Katalonien in der Kulturdiskussion 1714–1939, ­Tübingen 1978, S. 4.
  • 3Pierre Vilar: Kurze Geschichte zweier Spanien. Der Bürgerkrieg 1936–1939, Berlin 1987, S. 22.
  • 4Handelsblatt, 13.11.2017.
  • 5Christoph Möllers: Hysterie um Katalonien, DIE ZEIT, 2.11.2017.
  • 6Christoph Möllers, a.a.O. (Anm. 5).
  • 7Die folgende Argumentation stützt sich auf einen Aufsatz des Völkerrechtlers Bardo Fassbender: Brüchige Fassade, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.10.2017.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 1, Januar-Februar 2018, S. 118 - 127

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