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01. Sep 2017

Abschrecken und abwarten

Eine Strategie für den Umgang mit Nordkoreas nuklearer Bedrohung

Mit Raketentests und haarsträubenden Drohungen an die Adresse Washingtons hat das Regime Kim Jung-uns die Welt im Sommer in Atem gehalten: Zeit für eine Strategie, die unter Anerkennung einer neuen Verwundbarkeit Pjöngjang weiter abschreckt, auf langfristige Veränderungen setzt und Pekings Schlüsselrolle akzeptiert.

Mit zwei erfolgreichen Tests ­seiner neuen Hwasong-14-Raketen hat Nordkorea eine wichtige, von Washington gezogene rote Linie überschritten: Pjöngjang besitzt nun bewiesenermaßen Interkontinentalraketen (ICBM), die auch große amerikanische Städte treffen können. Und es hat diese ­Fähigkeit sogar einige Jahre früher erlangt als vorhergesagt, wie amerikanische Geheimdienste unlängst beschämt zugeben mussten.

Pjöngjang hat außerdem schon mehrere Nuklearwaffen getestet. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bevor es diese so weit verkleinern und abschirmen kann, dass sie auf eben jene Raketen passen und robust genug sind, die glühende Hitze des Wiedereintritts in die Atmosphäre und eventuelle Abwehrmaßnahmen zu überstehen. Einige Berichte, deren Autoren sich auf japanische und US-Geheimdienstquellen berufen, deuten sogar darauf hin, dass Nordkorea schon jetzt einen stark verkleinerten Nuklearsprengkopf besitzt, der auf eine ICBM passt. Sobald es einen Träger für den Wiedereintritt entwickelt hat, der den Sprengkopf durch die obere Atmosphäre schießen kann, ohne dass er zerfällt, liegen Los Angeles, Chicago und sogar Washington, DC in Reichweite Nordkoreas. Pjöngjang scheint also im Begriff, die ungleich wichtigere, ultimative rote Linie zu überschreiten, die US-Regierungen seit Jahrzehnten gezogen haben. Was dann?

Die gängige Lesart der nuklearen Bedrohung aus Nordkorea lautet ungefähr: Kim Jong-un, den nordkoreanischen Machthaber, mit militärischen Mitteln zur nuklearen Unterwerfung zu zwingen, ist enorm riskant, wie der Economist kürzlich in einem erschreckend plausiblen Szenario aufgezeigt hat. Trotz Donald Trumps polternder Ankündigung, „Feuer und Zorn“ zu entfesseln, falls Nordkorea die Vereinigten Staaten weiterhin bedrohe, bleibt ein US-­Militärschlag gegen Nordkorea eine schlechte Idee. Die in Washington am meisten diskutierte militärische Option ist ein gezielter Angriff auf Nordkoreas Atom­waffenprogramm, um das Arsenal zu dezimieren.

Problematisch dabei ist, dass Nordkorea schnell und unnachgiebig zurückschlagen würde. Treffen würde es die US-Verbündeten in der Region: Südkorea und Japan. Man sollte sich vor Augen halten, dass Kim Jong-un keine ICBMs oder Nuklearwaffen braucht, um Seoul oder amerikanische Militärstützpunkte in Südkorea zu treffen; Seoul liegt weniger als 50 Kilometer von der innerkoreanischen Grenze entfernt und damit in Reichweite selbst konventioneller Artilleriegeschütze.

Zehntausende würden von nur einer Salve sterben, eine Katastrophe, die niemand will. Eine Eskalation hin zu einem ausgewachsenen Krieg ist in diesem Szenario fast garantiert. Unheilverheißend ist dabei auch, dass Peking und Moskau bei einem Krieg an ihren Grenzen kaum unbeteiligte Zuschauer blieben, während Kriegsflüchtlinge in Scharen in ihre Länder strömten.

Hinnehmen können die Vereinigten Staaten und viele andere Länder ein nukleares Nordkorea allerdings auch nicht einfach. Als Mittel bleiben nur Wirtschaftssanktionen, um Pjöngjang in Verhandlungen mit dem Ziel eines Kompromisses zu zwingen. Der könnte eine „Dual-Freeze“-Vereinbarung sein: Nordkorea unterlässt weitere Nuklear- und Raketentests, während die USA, Südkorea und Japan im Gegenzug ihre großen Militärübungen an der Koreanischen Halbinsel einstellen. Diplomaten sei es bislang nicht gelungen, eine solche Übereinkunft zu treffen, so die herkömmliche Meinung, weil sie sich noch nicht genug bemüht hätten, Kim entgegenzukommen.

Erhebliche Schwachstellen

Diese Einschätzung hat jedoch erhebliche Schwachstellen. Sie unterstellt, dass es überhaupt möglich ist, einen politischen Kompromiss zu finden, der beide Seiten zufriedenstellt. Im Grunde geht es in dem Konflikt jedoch um das Wesen des nordkoreanischen Regimes und dessen Über­leben. Die Interessen beider Seiten in diesem Konflikt sind nicht kompatibel, ihre Differenzen unüberbrückbar.

Solange das nordkoreanische Regime die eigene Bevölkerung nicht ausreichend ernährt, sich nicht um seine Wirtschaft kümmert und sich durch Gehirnwäsche und brutale Repression an der Macht hält, muss es sich vom Süden und von den USA bedroht fühlen. Nicht so sehr, weil diese auf einen Regimewechsel versessen seien, sondern einfach weil sie erfolgreiche und damit eben auch mächtigere Staaten verkörpern.

Anfang der 1970er Jahre lag das Pro-Kopf-Einkommen in Nord- und Südkorea noch ungefähr gleichauf; 1990 übertraf der Durchschnittsverdienst eines Südkoreaners den eines Landsmanns im Norden aber bereits um das Vier- bis Fünffache. Heute ist das Einkommensniveau laut OECD-Daten und Schätzungen der Bank of Korea mindestens 25 Mal höher. Dieses Auseinanderklaffen ist das eigentliche Problem Pjöngjangs.

Die vergangenen Jahrzehnte haben außerdem wiederholt bewiesen, dass weder Südkorea noch die Vereinigten Staaten einfach mit dem jetzigen Regime koexistieren können: Die kommunistisch verbrämte Familiendiktatur der Kims braucht seine externen Feinde, um zu überleben.

Als US-Außenminister Rex Tillerson Anfang August erklärte, dass die USA keinen Regimewechsel in Nordkorea anstrebten, sagte er möglicherweise nicht die ganze Wahrheit (CIA-Direktor Mike Pompeo hatte nur wenige Tage zuvor angedeutet, dass Washington genau daran interessiert sei: an einem politischen Wandel in Pjöngjang). Ohnehin wird Kim Jong-un ihm nicht glauben.

Was auch immer Kims letztendliche Ambitionen sein mögen, er wird zuallererst das Überleben seines Regimes sichern müssen. Aber die Politik seines Vaters und Großvaters haben Nordkorea zum Zombie-Staat gemacht. Pjöngjang ist sich selbst der ärgste Feind. Keine Abmachung mit den USA wird daran etwas ändern. Und Kim Jong-un scheint wirtschaftliche Entwicklung nicht zu interessieren; er handelt stets mit brutalster Gewalt. Sein bevorzugter US-Gesprächspartner ist der frühere Basketballstar Dennis Rodman; als Google-Chef Eric Schmidt 2013 Pjöngjang besuchte, hatte Kim keine Zeit für ihn.

Wie bereitwillig Washington oder Seoul auch vorerst das weitere Überleben des Regimes aus taktischen Gründen akzeptieren mögen: Schluss­endlich verbietet die Moral eine stillschweigende Akzeptanz. Wenn es je einen Fall für die „Schutzverantwortung“ der internationalen Staatengemeinschaft für ein von seinen grausamen Herrschern bedrohtes Volk gab, dann ist das Nordkorea: Millionen sind unterernährt und Hunderttausende gehen in Gulags zugrunde, wo sie oft nur aus dem Grund inhaftiert sind, dass sie mit Regimegegnern verwandt sind.

Innen- und Außenpolitik sind bei der Kim-Dynastie eng miteinander verwoben: Das Regime besitzt reichlich konventionelle sowie ­biologische, chemische und jetzt auch nukleare Massenvernichtungswaffen, mit denen es seine innenpolitische Logik auf seine Nachbarn und den Rest der Welt überträgt. Ohne einen Regimewechsel ist fried­liche Koexistenz nicht möglich.

Die Chancen für einen Kompromiss und eine politische Lösung des Konflikts gehen also gegen null. Das soll kein Argument gegen Diplomatie sein: Ein Versuch kann nicht schaden. Aber nach unserer Einschätzung wird Pjöngjang weder seine Nuklearwaffen noch seine Interkontinentalraketen abgeben, gleich, was es als Gegenleistung erhält. Im besten Fall wird es sich in vorübergehender Zurückhaltung üben, falls der Nutzen groß genug ist; allerdings wird es seine Versprechen brechen, sobald es die „Belohnung“ einkassiert hat.

Einzige Option: Sanktionen

Da es keine sinnvollen militärischen und diplomatischen Optionen gibt, bleiben nur Sanktionen, so die landläufige Meinung. Diese sind aber kein Selbstzweck (z.B. um Missbilligung auszudrücken und Nordkoreas Konfrontationskurs verlustreicher zu machen), sondern immer nur ein Mittel zum Zweck. Diese Zwecke werden aber selten ausbuchstabiert, sondern im Kontext unterschiedlicher Strategien behandelt. So ist ein Ziel der Sanktionen, Pjöngjang an den Verhandlungstisch zu zwingen. Auf diese Weise werden die Maßnahmen Teil einer politischen Verhandlungsstrategie, die, wie wir bereits argumentiert haben, das Problem wahrscheinlich nicht löst; im besten Fall verschafft sie etwas Zeit.

Solche Sanktionen bestehen schon lange. Seit 2006 hat der UN-Sicherheitsrat als Reaktion auf nordkoreanische Nuklear- und Raketentests sieben Resolutionen verabschiedet, in deren Rahmen Sanktionen verhängt oder erweitert wurden: Embargos für Waffen und Technologien, die mit nuklearen oder anderen Massenvernichtungswaffen in Verbindung gebracht werden, Beschränkungen der nordkoreanischen Kohle-, Treibstoff- und Bergbauindustrie, Exportverbote für Luxusgüter nach Nordkorea, Reiseverbote, das Einfrieren von Kapital nordkoreanischer Staatsbürger, die mit den Waffen- und Raketenprogrammen in Verbindung stehen, und Verbote bestimmter Finanzdienstleistungen. Die Resolutionen des Sicherheitsrats ermöglichen Frachtinspektionen und maritime Abfangaktionen gegen Lieferungen verbotener Güter nach Nordkorea.

In der Resolution 2371 vom 5. August 2017 hat der UN-Sicherheitsrat die Sanktionen einstimmig auf nordkoreanische Exporte ausgeweitet, um zu verhindern, dass sich Pjöngjang ausländische Devisen beschaffen kann.

Das Resultat der schon Jahre andauernden Versuche, Pjöngjang so zur Aufgabe seines Atomprogramms zu bewegen, sind allerdings enttäuschend, wie eine neue Studie nochmals belegt. Bislang hat Pjöngjang alle Sanktionen gekonnt umgangen und China hat dies stillschweigend hingenommen, wie der jüngste Bericht des UN-Sanktionsausschusses bezeugt.1 Sollten die Sanktionen jemals Wirkung zeigen und dem Regime in Pjöngjang erheblich schaden, könnte es als Voraussetzung für Verhandlungen darauf bestehen, sie fallen zu lassen. In diesem Sinne sind Sanktionen als Teil einer Verhandlungsstrategie inhärent problematisch.2

Ein gänzlich anderes Ziel verfolgen diejenigen, die hoffen, durch härtere Sanktionen einen Regimewechsel herbeizuführen. Solche Sanktionen erhofft sich das Weiße Haus ­derzeit von Peking. Sie würden das Ende von lebensnotwendigen chinesischen Energie- und Nahrungsmittellieferungen an Nordkorea bedeuten. Solch weitreichende Maßnahmen – praktisch eine Wirtschaftsblockade – könnten tatsächlich irgendwann zum Kollaps Nordkoreas führen. Vor seiner Implosion hätte Nordkorea aber noch genügend Zeit, zu reagieren und damit seine Nachbarn zu gefährden. Zudem hätte diese Strategie nicht nur für die Bevölkerung Nordkoreas verheerende Folgen, sondern auch für die Anrainerstaaten – insbesondere China. Auch aus diesem Grund sträubt sich Peking nach wie vor, Nordkorea härtere Sanktionen aufzuerlegen.

Hardliner in Washington wie John Bolton diskutieren Sanktionen derzeit auch als Teil eines neuen Kurses: Regimewechsel durch Subversion. Solch ein von außen gesteuerter, klandestiner Sturz der Kim-Dynastie ist aber nur eine weitere Illusion. Erstens würde diese Taktik die Paranoia des Regimes in Pjöngjang noch verstärken und somit die internationalen Spannungen erhöhen. Zweitens würde sie höchstwahrscheinlich eine Kluft zwischen die USA und deren Verbündeten Südkorea treiben und China verstimmen. Drittens funktioniert eine subversive Regimeänderung nur äußerst selten und fast nie so wie geplant. Kurzum ist auch diese Option extrem riskant; die Annahme, dass sich ein kontrollierter Regimewechsel in Nordkorea arrangieren lässt, erscheint atemberaubend un­realistisch.

Regime mit Problemen

Was bedeutet das alles für den zukünftigen Umgang mit Nordkorea? Wegweisend wäre, ins Kalkül zu ziehen, dass auch Pjöngjang vor mindestens zwei großen Problemen steht – einem strategischen und einem ­existenziellen.

Strategisch muss sich Nordkorea darüber bewusst werden, was es mit seinen nuklearen Abschreckungswaffen eigentlich anfangen will, außer einen ohnehin sehr unwahrscheinlichen Angriff auf das eigene Land zu verhindern. In diesem Sinne ist Nordkoreas nukleare Abschreckung untauglich.

In der Tat: Die Vereinigten Staaten werden bald durch Nordkoreas Atomwaffen verwundbar sein, allerdings sind sie das schon lange. Zuerst durch die Nuklearwaffen der Sowjet­union, dann Russlands und Chinas. Das Gefährliche an der neuen Situation ist lediglich, dass die USA offenbar weiterhin glauben wollen, unverwundbar zu sein.

Was wird Pjöngjang also mit seinen neuen Spielzeugen anstellen? Zweifellos wird das Regime versuchen, buchstäblich daraus Kapital zu schlagen, Zugeständnisse der internationalen Staatengemeinschaft einzufordern und seine Nachbarn zu erpressen. Der Verkauf von nuklearem Know-how zum Bau von Kernreaktoren (zunächst „nur“ an den syrischen Diktator Baschar al-Assad) hat bereits gezeigt, wie gefährlich das sein kann. Glücklicherweise bereitete die israelische Luftwaffe diesem Weiterverbreitungsversuch ein jähes Ende. Wichtig ist deshalb, dass die USA, ihre Verbündeten und die ganze internationale Staatengemeinschaft den nordkoreanischen Erpressungsversuchen standhalten und mit Entschlossenheit auf Nordkoreas Forderungen reagieren.

Das existenzielle Problem, mit dem sich Nordkorea auseinandersetzen muss, ist die Herausforderung seiner Modernisierung: Trotz allem militärischen Getöse ist die Familiendynastie der Kims nicht zukunftsfähig, bedenkt man den miserablen Zustand der nordkoreanischen Gesellschaft. In Nordkorea geht es gewissermaßen um Bombenbau auf zweierlei Art. Zum einen setzte die Führung alles auf die Erlangung nuklearer Sprengköpfe und Langstreckenraketen, mit denen sich die USA direkt bedrohen lassen. Zum anderen tickt die Zeitbombe des ökonomischen und sozialen Wandels immer lauter.

In den vergangenen Jahren war Pjöngjang gezwungen, große Teile seiner Wirtschaft von staatlicher Kontrolle zu befreien, um seinem Volk das Überleben zu ermöglichen. Daraus entwickelten sich marktwirtschaftliche Elemente, Proto-Kapitalismus, wuchernde Korruption und neue Profiteure, häufig Insider des Regimes. Nordkoreas Wirtschaft wurde dynamisch, was wiederum zu neuen Einnahmen für den Staat – und für seine Vertreter – führte.

Nordkoreas Kommunisten haben Deng Xiaopings berühmte Maxime für sich entdeckt: „Reich zu werden ist ruhmvoll.“ Mit der Zeit werden die Anziehungskraft des Wohlstands und die vorherrschende ­Korruption Transformationskräfte heraufbeschwören, die für das Regime nur schwer kontrollierbar sein werden. Wirtschaftssanktionen könnten diesen Prozess vielleicht beschleunigen. Aufgrund einer unvorhergesehenen Kette von Ereignissen könnte das nordkoreanische Regime sogar regelrecht in sich zusammenfallen.

In diesem Sinne lebt der wahre Feind schon im eigenen Haus. Veränderungen werden auf der Koreanischen Halbinsel höchstwahrscheinlich nicht durch diplomatische Lösungen erreicht werden, sondern irgendwann fast zwangsläufig aus dem Inneren Nordkoreas kommen. Im besten Falle würde das Regime in Pjöngjang, um eine Formulierung von Karl Marx zu bemühen, einfach „langsam verkümmern“.

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es von der neuen kapitalistischen Schicht gekapert wird. Der schlimmste Fall wäre natürlich ein Krieg, den wohl keine Seite will, auch wenn Pjöngjangs haarsträubende Rhetorik manchmal so klingt.

Vier Elemente

Welche Optionen haben der Westen – die USA, Südkorea, Japan, Europa – und China? Eine erfolgversprechende Strategie, um mit der nuklearen Bedrohung durch Nordkorea umzugehen, besteht aus vier Elementen. Das erste Element sind Sanktionen, die Nordkoreas momentanen Konfrontationskurs noch kostspieliger machen. Zwar erweiterte der UN-Sicherheitsrat im August 2017 die bereits bestehende Sanktionspalette, allerdings gibt es immer noch viel Spielraum für härtere Maßnahmen, die Pjöngjang wirklich schmerzen und es möglicherweise an den Verhandlungstisch bringen. Man darf nicht auf Nordkoreas Provokationen hereinfallen. Soll das Regime doch seine neuen Waffen testen, aber die Staatengemeinschaft muss Sorge tragen, dass es dafür durch Tausende Nadelstiche einen hohen Preis zahlt.

Das zweite Element besteht darin, Nordkoreas Regierung nicht weiter zu provozieren, sondern Optionen für eine diplomatische Lösung auszuloten. Die Diplomaten sollen verhandeln, allerdings ohne Pjöngjang einseitige Zugeständnisse zu machen. In diesem Kontext wäre die Regierung in Washington gut beraten, ihre ultimative rote Linie stillschweigend zu kassieren. Es ist nun einmal so, dass die USA schon jetzt, zumindest aber sehr bald, nicht mehr nur von russischen und chinesischen, sondern auch von nordkoreanischen Nuklearwaffen bedroht werden; sie müssen lernen, damit zu leben.

Das Regime von Kim Jong-un wird zweifellos weiterhin durch militärische Drohgebärden versuchen, Konzessionen und Geld von den USA zu erhalten, um seine Haut zu retten und seinen luxuriösen Lebensstil zu bewahren. Der Westen und China sollten sich auf diese nukleare Erpressung einstellen und sich dagegen zu wehren wissen. Außerdem müssen die USA, Südkorea und Japan eine wirksame Abschreckungs- und Abwehrpolitik gegen einen militärischen Angriff Pjöngjangs fahren. Das ist das dritte Element der Strategie.

Nicht zuletzt gibt es viele Möglichkeiten, die transformativen Veränderungen in Nordkorea zu fördern oder sogar zu gestalten. In diesem vierten Element der Strategie geht es um den kumulativen Effekt einzelner kleiner Maßnahmen und nicht um ein Allheilmittel, das das Problem auf einen Schlag löst. Nordkorea ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten bereits deutlich instabiler geworden, obwohl das Regime dies unbedingt verhindern wollte. Diese Risse werden wachsen, und es werden sich grenz­überschreitende Netzwerke bilden, besonders zwischen den beiden Koreas selbst und zwischen Nordkorea und China.

Was aber will Peking eigentlich, und wie kann man es in eine solche Strategie einbinden? Bisher verfolgte es seine eigene Containment-Strategie gegenüber Nordkorea, was eine große Krise an seiner Grenze verhindert hat. Gleichzeitig erlaubte diese Eindämmung es dem Regime in Pjöngjang, an der Macht zu bleiben und seine Nuklearwaffen weiterzuentwickeln. Chinas letztendliches Ziel ähnelt stark dem Washingtons und Seouls: eine friedliche Lösung des Konflikts und eine Entnuklearisierung der Halbinsel. Aber als Nachbar Nordkoreas wird Peking alles daransetzen, eine große Notlage zu verhindern, die auf China zurückwirkt. Einen riesigen Flüchtlingsstrom in den Nordosten des Landes auszulösen, scheint eine besondere Sorge für die Regierung von Xi Jinping. Umfassende, unilaterale und schwerwiegende Sanktionen gegen die nordkoreanische Wirtschaft sind deshalb ausgeschlossen.

Schlüsselstaat China

Allerdings wird Chinas ­Nordkorea-Politik schon lange von den Beziehungen zu den USA geleitet, und das wird sich auch so schnell nicht ändern. Als Peking im August für die neuen UN-Sanktionen stimmte, wollte es Washington damit seine Kooperationsbereitschaft signalisieren. Gleichzeitig ist China auch darauf bedacht, unilaterale „Sekundärsanktionen“ der USA zu verhindern – Maßnahmen gegen alle, die mit Nordkorea in irgendeiner Form Geschäfte machen. Washington hat schon jetzt einige chinesische Firmen wegen ihrer finanziellen Verbindungen zum nordkoreanischen Militär abgestraft und gedroht, weitere Sanktionen gegen chinesische Banken und Unternehmen mit Verbindungen zum Kim-Regime zu verhängen, falls Peking nicht kooperiert und die UN-Resolutionen unterläuft.

Insgesamt scheint China eine politische Verhandlungsstrategie zu bevorzugen: Sanktionen sollen empfindlich treffen, Pjöngjang aber nicht komplett unterminieren. Solange China in Gesprächen weiterhin Nordkoreas Partei ergreift und dabei versucht, amerikanische Zugeständnisse für sich selbst auszuhandeln, sind Verhandlungen jedoch keine Lösung für das eigentliche Problem: ein instabiles und unberechenbares Nordkorea, das mit seinen Massenvernichtungswaffen und Langstreckenraketen Ostasien und die ganze Welt in Atem hält.

Wenn die Zeit reif ist, ist China vielleicht am ehesten in der Lage, gemäß dem vierten Element unserer Strategie einen Regimewechsel in Nordkorea voranzutreiben. In der Zwischenzeit ist Pekings Kooperation oder zumindest stillschweigende Unterstützung unerlässlich für den Erfolg von Verhandlungen und Sanktionen. Die USA und ihre Verbündeten können es sich nicht leisten, ­China vor den Kopf zu stoßen.

Helena Legarda ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Mercator Institute for China Studies (MERICS) in Berlin.

Prof. Dr. Hanns W. Maull ist außerordentlicher Professor für Internationale Beziehungen an der Johns ­Hopkins University in Bologna sowie Senior Fellow bei MERICS und SWP.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September-Oktober 2017, S. 102 - 109

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