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01. Juli 2017

Den Stier bei den Hörnern nehmen

Berlin kann auch im Wahljahr einen neuen Aufbruch für Europa wagen

Der Brexit und die Wahl Donald Trumps haben geschafft, was zehn Jahre Dauerkrise nicht bewirkt haben: ein neues Bekenntnis zur EU. Und zwar sowohl in der Bundesregierung als auch in der Bevölkerung. Es gibt eine Bereitschaft für weitere Reformen; denn was zählt, sind Ergebnisse, nicht der Modus der Zusammenarbeit zwischen den EU-Staaten.

In Sachen Europa ist Berlin zweifellos selbstbewusst, auch wenn es wie in den vergangenen Jahren trotz deutscher Stärke alles andere als rund lief für die EU. Deutschland zählt sich qua Selbstverständnis traditionell zu den Chefarchitekten der europäischen Integration. Anders als in der Außen- und Sicherheitspolitik, in der hierzulande erst seit einigen Jahren über die Notwendigkeit eines stärkeren deutschen Engagements diskutiert wird, hat wohl kaum jemand in der EU Zweifel am deutschen Gestaltungswillen. Die Ausgangsfrage in der Europapolitik ist eine völlig andere. Wie kann es sein, dass Berlin sich zwar in den vergangenen Jahren für den Zusammenhalt und für Reformen in der EU eingesetzt hat – die EU aber immer noch nicht aus dem Formtief herauskommt? Deutschland dafür verantwortlich zu machen, dass es an den wesentlichen Sollbruchstellen der EU-Architektur – der Eurozone, der gemeinsamen Asyl- und Migrationspolitik sowie der Außen- und Sicherheits­politik – trotz erheblichen Problemdrucks bisher zu wenig Fortschritte gab, greift deutlich zu kurz. Dennoch muss sich die deutsche Europapolitik selbstkritisch fragen, welche Fehler man auch in Berlin gemacht hat.

Ein Hinterfragen der eigenen Rolle und Konzepte käme sicher nicht ganz unvermittelt. Seit vergangenem Jahr hat sich aber etwas grundlegend verändert in der deutschen Europadebatte. Während die großen Krisen des vergangenen Jahrzehnts – die Auswirkungen der globalen Banken- und Finanzkrise, die Gefährdung der europäischen Sicherheitsarchitektur durch die russische Annexion der Krim sowie das Versagen der EU und ihrer Mitglieder beim Management der Flüchtlingskrise – den Handlungsdruck bereits enorm erhöht hatten, spitzte sich 2016 die Lage noch weiter zu: Innerhalb Europas durch einen Zuwachs an nationalistischen Parteien und Bewegungen sowie das britische EU-Referendum, in dem sich eine knappe Mehrheit im Juni 2016 für einen Austritt aus der EU aussprach; und von außen durch die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten, die mit einer bisher beispiellosen Verunsicherung im transatlantischen Verhältnis einherging. Seither ist klar: Es muss sich grundlegend etwas ändern.

Mit dem Brexit wurde greifbar, was bis zu diesem Zeitpunkt undenkbar schien: dass die EU nicht etwa weiter an Mitgliedern gewinnt, sondern stattdessen schrumpft – und vielleicht sogar implodiert. Dabei bezog der Schock in Berlin sich nicht in erster Linie auf den Brexit. Tiefe Sorge bereitete vielmehr die Perspektive, dass es zu einem Dominoeffekt kommen könnte und weitere Staaten die zu diesem Zeitpunkt tief zerstrittene Union verlassen könnten. Ausgerechnet der neue US-Präsident streute dann noch Salz in die Wunde. Wenige Tage vor seiner Amtseinführung gratulierte Trump in einem Interview mit der Bild-Zeitung den Briten zu ihrem klugen Schritt und prognostizierte, dass weitere EU-Länder diesem Beispiel bald folgen würden.1 Die Vereinigten Staaten stellten damit vor der ganzen Welt das Ordnungsmodell Europäische Union infrage, und das zu einem Zeitpunkt, als die EU sichtlich um den Zusammenhalt kämpfte und Mächte wie Russland und China die Selbstzweifel der Europäer längst genüsslich für ihre eigenen Ziele nutzten.

Bekenntnis zur EU

Wer diese Art von Freunden hat, braucht keine Feinde, mag man sich im Kanzleramt und am Werderschen Markt gesagt haben. Zu diesem frühen Zeitpunkt war zwar noch nicht absehbar, inwieweit sich das Temperament eines Donald Trump tatsächlich in der künftigen US-Politik widerspiegeln würde. Aber allein der Gedanke daran erschütterte die Grundlagen deutscher Außenpolitik. Mit einem Schlag gerieten sowohl der europäische als auch der transatlantische Pfeiler ins Wanken. Und in Berlin erkannte man in bedrohlicher Klarheit, wie viel Deutschland zu verlieren hat, wenn die EU und auch die trans­atlantische Allianz ihre Selbstverständlichkeit verlieren.

„Ich denke, wir Europäer haben unser Schicksal selber in der Hand“, so Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einer Pressekonferenz im Januar 2017, als sie auf die Prognose Donald Trumps in der Bild-Zeitung über den Zerfall der EU angesprochen wird. „Ich werde mich weiter dafür einsetzen, dass die 27 Mitgliedstaaten intensiv und vor allen Dingen auch zukunftsgerichtet zusammenarbeiten.“2 In ihrer ganzen Schlichtheit zeigt diese Botschaft eine klare strategische Entscheidung. In Berlin weiß man aus den jüngsten Begegnungen und Entwicklungen in Großbritannien und den USA, dass die Beziehungen zu London und zu Washington derzeit durch Unberechenbarkeit (manche sprechen gar von Unzuverlässigkeit) gekennzeichnet sind, und dass grundsätzliche Unterschiede im Blick auf europäische und globale Fragen bestehen. Gleichzeitig schätzt man in Berlin die eigenen Möglichkeiten zur Beeinflussung beider Hauptstädte realistisch ein. So macht es bei allen Schwächen, die die EU derzeit aufweist, Sinn, dort anzusetzen, wo man glaubt, sein Gewicht und seinen Einfluss am besten geltend machen zu können – nämlich in der EU. Dementsprechend war eine verstärkte Investition in den Zusammenhalt und die Leistungsfähigkeit der Europäischen Union logische Konsequenz der Erschütterungen im Verhältnis zur angelsächsischen Welt. Anstatt also auf den Ruf einzugehen, die Rolle als neue „Anführerin der freien Welt“3 einzunehmen, antwortete Berlin weniger glamourös und man könnte meinen, so wie es dies eigentlich immer tut: mit einem Bekenntnis zur EU.

Berlin muss jetzt liefern

Was ist daran bitteschön neu? Im Unterschied zu sonst üblichen Sonntagsreden muss Berlin jetzt in zentralen Fragen der Europapolitik liefern. Die vergangenen zehn Jahre haben gezeigt, dass feurige Bekenntnisse zur EU, verbunden mit lauwarmen Reformmaßnahmen, keine Frischzellenkur für die lahmende Europäische Union sind, sondern im Gegenteil deren Krisendynamik befördern – und zwar sowohl von innen als auch von außen. Diese Lesart der aktuellen Lage erhöht die politischen Kosten eines üblicherweise wohlfeilen Bekenntnisses zur EU erheblich. Zumal Staatspräsident Emmanuel Macron auf der anderen Seite des Rheins vorlegt und ernsthaft politisches Kapital investiert, um in Frankreich selbst und auch auf europäischer Ebene mit drängenden Reformen ernst zu machen.

Die Bundesregierung hat deshalb gut daran getan, Macrons Reformkonzepte insbesondere zur Wirtschafts- und Währungsunion im Grundsatz erst einmal positiv aufzugreifen. In den Tagen nach seiner Wahl zum französischen Präsidenten war dies eine wichtige Positionierung. Denn Bild-Zeitung und Spiegel4 hatten umgehend vor einer Plünderung deutscher Sparkonten durch die Reform­ideen des jungen Heißsporns im Elysée gewarnt. Eine solche Erzählung fällt in der deutschen Öffentlichkeit leicht auf fruchtbaren Boden und würde es der jetzigen und künftigen Bundesregierung erschweren, sich ernsthaft an die weitere Reform der Eurozone zu wagen.5

Mit der Wahl Emmanuel Macrons änderte sich die Rollenverteilung zwischen Berlin und Paris schlagartig. Plötzlich wurde Paris zum Treiber der deutschen Debatte, die hierzulande eigentlich noch gar nicht richtig stattgefunden hatte. Es ist ja schon bemerkenswert, wie viel der deutsche Durchschnittsbürger über die französische Reformunfähigkeit zu wissen glaubt und deshalb kräftig über die Nachbarn urteilt, während hierzulande Alternativen zur Europolitik der Regierungen Merkel entweder immer noch zu wenig bekannt sind oder gleich kategorisch abgelehnt werden.

Weil sich die gegenwärtigen Kontroversen der Europapolitik – vor allem eine stabile Architektur für die Eurozone – aber kurzfristig kaum als Signal für Einigkeit und Stärke eignen, wenn man erstmal ins Detail geht, haben sich Deutschland und einige andere EU-Länder in den vergangenen Monaten wie so oft zunächst auf das komfortablere Terrain von Prozessfragen begeben. Dabei haben sie zum wiederholten Male in der Geschichte der EU die Sau der „flexiblen Zusammenarbeit“ durchs Dorf gejagt.6 Aus Anlass der Feierlichkeiten zu 60 Jahren Römischer Verträge im März 2017 bekannten sich die 27 EU-Mitglieder (zu diesem Zeitpunkt bereits in einer gewissen Selbstverständlichkeit ohne Großbritannien) dazu, zwar weiter gemeinsam an der Zukunft der Europäischen Union arbeiten zu wollen, in verschiedenen Problemfeldern aber, falls erforderlich, in unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität.7

Man mag auch dies für eine verstaubte Wiederholung altbekannter, oft akademischer Debatten zu Modellen „konzentrischer Kreise“, zu „Kerneuropa“, „variabler Geometrie“ oder dergleichen halten. Politisch bezweckt Berlin, das sich gemeinsam mit Paris, Rom und Madrid mit der Initiative für mehr Flexibilität hervorgewagt und um Unterstützung bei den anderen EU-Ländern geworben hat, nach Jahren der Zerstrittenheit eine neue Kooperationsdynamik in der EU anzustoßen. Bewusst nimmt man dabei die abwehrenden Reaktionen derer in Kauf, die Sorge haben, möglicherweise ausgeschlossen zu werden bzw. nicht mehr mithalten zu können. Eine Umfrage des European Council on Foreign Relations (ECFR)8 unter Experten und Regierungsvertretern in allen 28 EU-Mitgliedstaaten zur Perspektive einer „flexiblen Union“ hat nicht nur gezeigt, wie stark die Hauptstädte den Druck spüren, die Akzeptanz der EU in der Bevölkerung wieder zu erhöhen, indem man schnell positive Beispiele erfolgreicher europäischer Kooperationen vorweist. Dies ist schließlich das Hauptmotiv nahezu aller EU-Mitglieder, unterschiedliche Geschwindigkeiten zu befürworten.

Die Studie zeigt auch, wie sich in den zurückliegenden Jahren das Denken in Berlin in Bezug auf flexible Formen der Zusammenarbeit verändert hat. Traditionell waren deutsche Bundesregierungen in dieser Frage zurückhaltend, weil man eine rechtliche und politische Zerfaserung der EU befürchtete. Inzwischen aber gibt es in einigen Mitgliedstaaten, darunter auch in Deutschland, Hinweise auf ein Umdenken. Flexibilisierung wird vielerorts nicht mehr als Spaltpilz gesehen, sondern im Gegenteil als Chance, um weiterer Desintegration nach dem Brexit entgegenzuwirken. Und flexible Formen der Zusammenarbeit folgen nicht mehr vor allem einer integrationspolitischen Logik zur Stärkung der europäischen Integration. Vielmehr steht das Thema Leistungssteigerung durch kollektives Handeln im Vordergrund.

Dabeisein erfordert EU-freundliches Verhalten

Die politische Dynamik, die von einer solchen Debatte in der EU ausgehen kann, sollte man nicht unterschätzen – gerade auch gegenüber den zuletzt äußerst schwierigen Partnern Polen und Ungarn. Warschau und Bu­dapest haben keinerlei Interesse daran, „außen vor“ zu bleiben, schon gar nicht, wenn es im Rahmen neuer Formen der Zusammenarbeit um ihre Kernanliegen geht und mit der Bereitstellung entsprechender Ressourcen verbunden ist. In Bezug auf Ungarn ist dies das Thema Sicherung der Außengrenzen, in Polen die Sicherheits- und Verteidigungspolitik. So lassen in der aktuellen Flexibilisierungs­debatte deren Initiatoren auch eine gewisse Drohgebärde wirken. Nach dem Motto: „Dabeisein erfordert unionsfreundliches Verhalten, sonst wird es draußen vor der Tür eben kälter.“

Diese Form des impliziten Drucks ist nicht neu, sondern war bereits Teil der Flexibilisierungsdebatten der 1990er Jahre und der Jahrtausendwende – nur ist es eben „draußen vor der Tür“ inzwischen wirklich erheblich kälter als zur Zeit der europäischen Aufbruchstimmung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Dankenswerterweise führt Großbritannien gerade jeden Tag unrühmlich vor Augen, was es selbst für ein Land dieser Größe und Ressourcen heißt, mit der Perspektive umzugehen, bald nicht mehr Teil des Clubs zu sein. Da wollen sich auch die anderen europäischen Hauptstädte nicht in den Vorhof der Integration abdrängen lassen.

Momentan erleben wir ein fast schon ritualisiertes Repertoire an Reaktionen auf diesen erneuten Vorstoß für mehr Flexibilität: Die „Kleinen“ fürchten eine Dominanz der „Großen“ und fordern eine starke Rolle für die Kommission, um ihre Interessen zu schützen; die Kommission versucht ihrerseits, die Debatte mit eigenen Konzepten zu steuern und diese im gemeinsamen institutionellen Rahmen der EU zu verankern, um Alleingänge von Gruppen von Mitgliedstaaten außerhalb der Verträge zu verhindern; die jüngeren EU-Mitglieder fürchten eine Mitgliedschaft zweiter oder dritter Klasse, die „Großen“ beteuern ihr Bekenntnis zum Zusammenhalt der EU und der Rolle der Gemeinschaftsinstitutionen. Es wirkt fast so, als wollten sich alle mit diesen bekannten Ritualen noch einmal versichern, dass man ja immer noch Teil derselben Union ist, mit der man in der vergangenen Dekade mehr schlecht als recht durch die Welt getaumelt ist. Dabei scheint längst ambitionierteres Denken Raum zu greifen – und das hat tatsächlich auch mit Bewegung in Berlin zu tun.

Finanzminister Wolfgang Schäuble, Veteran bundesdeutscher Europakonzepte, darunter auch flexibler Formen der Zusammenarbeit, schrieb aus Anlass der Feierlichkeiten zur Reform der Römischen Verträge in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung,9 dass es in der aktuellen Situation letztlich egal sei, mit welchen Formen der Zusammenarbeit die Europäer ihre Probleme kollektiv lösten – ob mittels „variabler Geometrie“, flexibler Geschwindigkeiten, Kern­europa oder „Koalitionen der Willigen“. Auch europaskeptischen Teilen in der Bevölkerung sei klar, dass in wesentlichen Bereichen – beim Schutz und Management der gemeinsamen Außengrenzen, bei Fragen europäischer Sicherheit und der Governance der Eurozone – Alleingänge schlicht keine Option seien. Man müsste also im Zweifel pragmatisch zusammenarbeiten, auch intergouvernemental, wo es an einer Basis für gesamteuropäische Ansätze im EU-Rahmen fehle. Dies schließe auch die Möglichkeit ein, Budgets für sektorale Politiken in kleinen Gruppen zu mobilisieren, etwa für die Eurozone oder den Grenzschutz.

Dieser eher intergouvernementale Ansatz lässt Alarmglocken bei denjenigen schrillen, die die Zukunft der EU weiterhin eng mit der Gemeinschafts­methode verbunden sehen. Entscheidender aber ist, dass die Politik in Deutschland sich inzwischen wieder sicherer sein kann, dass sie es mit einer weiterhin in der Mehrheit EU-freundlichen Bevölkerung zu tun hat – und dieser dürfte der Modus der Zusammenarbeit der EU-Mitglieder letztlich ziemlich egal sein, solange die Ergebnisse stimmen.

Pulse of Europe: Menschen gehen für Europa auf die Straße

In Deutschland wirkt die Politik seit einiger Zeit fast überrascht, dass in der Bevölkerung ein Beschützerinstinkt für die gebeutelte EU zu greifen scheint. Was fast zehn Jahre Dauerkrise nicht geschafft haben, haben offenbar die Aussichten auf den Brexit und Donald Trump losgetreten. In Deutschland und inzwischen auch an vielen anderen Orten in Europa – darunter in Großbritannien und Polen – gehen seit November 2016 sonntags immer mehr Menschen auf die Straße, um sich selbstbewusst als „Puls von Europa“ zu artikulieren. Parteipolitisch wollen sie nicht sein und auch nicht unkritisch gegenüber der EU. Aber sie wollen den lautstarken Hetzern, Spaltern und Nationalisten innerhalb und außerhalb Europas ein ebenso starkes Zeichen für Zusammenhalt, Demokratie und Menschenrechte entgegensetzen – und für die Reformierbarkeit der EU. Insgesamt ist laut einer Umfrage von Eurobarometer im ­April 2017 das Vertrauen der Deutschen in die EU seit November 2016 um ­satte 20 Prozent gestiegen.10

Weil Trumps Amerika so deutlich offenbart, was es für Gesellschaften und politische Systeme heißt, wenn das Bekenntnis zu diesen fundamentalen ­Werten ins Wanken gerät, hat auf einmal auch die Wertedebatte in Europa an Substanz und Tiefe gewonnen. Dass sich jetzt Bürgerinnen und Bürger landauf, landab schützend vor die Werte stellen, die sie in der Europäischen Union verbinden, wirkt plötzlich machtvoller als etwa die dürren Versuche der EU-Regierungen, die tiefen Konflikte über Rechtsstaatlichkeit und Demokratie mit den politischen Führungen in Polen und Ungarn im Rahmen von Prüfverfahren zu klären.

Mehr Selbstvertrauen für mutigere Reformschritte

Das Phänomen „Pulse of Europe“ zeigt auch, dass es für die große Mehrheit der Parteien, die die Europäische Union weiterentwickeln wollen, offenbar noch ungehobenes Potenzial in der deutschen Bevölkerung gibt. Ein Jahrzehnt der Krisen hat die Deutschen nicht europamüde gemacht. Im Gegenteil zeigt sich gerade in dem Augenblick, in dem man mit dem Brexit, Trump und zeitweise auch mit der Perspektive einer französischen Präsidentin Le Pen in den Abgrund geschaut hat, dass die europäische Erzählung weiterhin trägt. Umfragen haben dies über Jahre belegt, aber es scheint fast, als ob es jetzt die Menschen sind, die der Politik wieder mehr Selbstvertrauen geben, mutigere Reformschritte für die EU einzuleiten, als sie dies bisher getan haben.

Außenminister Sigmar Gabriel hat eben dieses Fahrwasser getestet. Es sei eine Mär, dass sich in der deutschen Öffentlichkeit die Überzeugung halte, Deutschland sei der Zahlmeister der EU. „Die Wahrheit ist, dass Deutschland kein europäisches Nettozahler-, sondern ein Nettogewinner-Land ist. (…) Jeder Euro, den wir also für den EU-Haushalt zur Verfügung stellen, kommt – direkt oder indirekt – mehrfach zu uns zurück. (…) Wie wäre es also, wenn wir bei der nächsten Debatte über Europas Finanzen etwas ‚Unerhörtes‘ tun? Statt für eine Verringerung unserer Zahlungen an die Europäische Union zu kämpfen, die Bereitschaft zu signalisieren, sogar mehr zu zahlen.“11

Es wäre für die deutsche Politik im laufenden Wahljahr dringend geboten, tatsächlich ein besseres Verständnis von der Stimmung in der deutschen Bevölkerung zu entwickeln. Es spricht einiges dafür, dass sich auch in Deutschland Mehrheiten für Reformen mit größerer Reichweite für die EU erringen und Wahlen gewinnen lassen.

Dass die EU als Ordnungsmodell plötzlich aus den eigenen Reihen und von Freunden – von Großbritannien und den Vereinigten Staaten – infrage gestellt wurde, hat Berlin im vergangenen Jahr in ganz neuer Dimension vor Augen geführt, was es hieße, die Europäische Union als wirtschaftlichen und politischen Rahmen zu verlieren. In der Bundesregierung hat dieser Moment der Wahrheit zu einer Erneuerung des europäischen Bekenntnisses geführt. Daran würde sich auch in einer neuen Regierungs­koalition nach der Bundestagswahl nichts wesentlich ändern.

Berlin hat außerdem vergleichsweise nüchtern und strategisch auf die innereuropäische und transatlantische Lage zum Jahresbeginn 2017 reagiert. Nicht kopflos, aber durchaus in großem Tempo. Nun sind viele Dinge sehr viel klarer konturiert. In diesem Moment maximaler Unsicherheit hat Berlin sich darauf besonnen, einen neuen Grundkonsens mit der EU-27 zu suchen, aber in konkreten Sachfragen auch kleinere Koalitionen von gleichgesinnten EU-Partnern zu schmieden. Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in Frankreich haben zu einer neuen Aufbruchstimmung in der Berliner Politik geführt, wobei man sich auf beiden Seiten des Rheins der harten Arbeit bewusst ist, die jetzt vor einem liegt – dazu kennt man einander zu gut.

Dass Emmanuel Macron die Reform der Eurozone auf die Agenda der öffentlichen Debatte in Deutschland gesetzt hat, hat zunächst die Unterschiede zwischen beiden Ländern in den Vordergrund gerückt. Das muss aber nicht von Nachteil sein. Die Deutschen sollten sich endlich daran gewöhnen, dass Europa mehr ist als ein Spielfeld, das sie am Ende immer siegreich verlassen.

Die Fähigkeit zu Kompromissen ist tief in der politischen Kultur unseres Landes verankert und sie hat in der Vergangenheit schon oft auch für Europa getragen. Eine künftige Bundesregierung sollte nicht den Fehler der vergangenen machen, die Kooperations- und Integrationsbereitschaft einer Mehrheit der Deutschen für eine stärkere Europäische Union zu unterschätzen.

Almut Möller ist Senior Policy Fellow und Leiterin des Berliner Büros des European Council on Foreign Relations (ECFR).

  • 1Was an mir Deutsch ist?“, Interview mit Donald Trump, Bild, 16.1.2017.
  • 2Bundeskanzlerin Merkel bei der Pressekonferenz mit dem Premierminister von Neuseeland am 16.1.2017 in Berlin.
  • 3Timothy Garton Ash: Populists are out to divide us. They must be stopped, The Guardian, 11.11.2016.
  • 4Vgl. die Titelseiten der Bild-Zeitung: Neue Zeiten in Frankreich: Wie teuer wird Macron für uns?, 8.5.2017, und des Spiegel: Teurer Freund: Emmanuel Macron rettet Europa … und Deutschland soll zahlen, 13.5.2017.
  • 5Vgl. Thorsten Benner und Thomas Gomart: Meeting Macron in the Middle. How France and Germany can revive the EU, Foreign Affairs, 8.5.2017.
  • 6Vgl. dazu Almut Möller und Dina Pardijs: The Future Shape of Europe. How the EU can bend without breaking, ECFR Flash Scorecard, März 2017.
  • 7 Erklärung von Rom, 25.3.2017, http://www.consilium.europa.eu/de/press/press-releases/2017/03/25-rome-….
  • 8Vgl. Möller und Pardijs: The Future Shape of Europe, a.a.O. (Anm. 6).
  • 9Wolfgang Schäuble: Beste Vorsorge für das 21. Jahrhundert, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.3.2017.
  • 10European Commission: Special Eurobarometer 461 „Designing Europe’s future“, 2017.
  • 11Sigmar Gabriel: Wir sollten mehr für Europa zahlen, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.3.2017.
Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli-August 2017, S. 34 - 41

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