Essay

26. Aug. 2016

Die Akte Assad

Auf der Suche nach Beweisen für die Verbrechen des syrischen Regimes

Massenmord, Hinrichtungen, Folter: Die Liste der Vorwürfe gegen Baschar al-Assad ist lang. Sollte der syrische Präsident sich dafür je vor Gericht verantworten müssen, ist der Nachweis einer Anordnung und Billigung der Taten „von oben“ gefordert. Doch wie sichert man Belastungsmaterial, solange die Täter an den Schalthebeln der Macht sitzen? Eine Reportage.

Die Strecke war der Bote schon mehr als einhundert Mal abgefahren – immer im gleichen verbeulten Laster, nie mit verdächtiger Ladung. 65 Kilometer waren es zur Grenze, zu passieren waren elf schwer gesicherte Kontrollpunkte der Rebellen. Mit der Zeit wurde er den Milizionären zum alten Bekannten. Immer höflich, brachte er ihnen oft etwas zu essen oder trinken mit und dankte ihnen für den Schutz, den sie Zivilisten wie ihm gewährten.

An einem heißen Sommernachmittag war es endlich so weit. Der Bote belud einen Laster mit 100 000 erbeuteten syrischen Regierungsdokumenten, die er zuvor aus Verstecken in Erdgruben, Höhlen oder verlassenen Häusern geholt hatte. Bei Sonnenuntergang fuhr er los. Drei Späher, die kurz vor ihm die Strecke abgefahren waren, hatten ihm per Funk das Signal gegeben: keine neuen Kontrollpunkte. Die Grenze erreichte er unbehelligt. Die akribische Vorbereitung hatte sich ausgezahlt. Seine Ladung übergab er in einer westlichen Botschaft. Man möge sie, bat er, an den amerikanischen Menschenrechtsanwalt Chris Engels schicken. Mission erfüllt.

Chris Engels leitet die Abteilung für Regierungsverbrechen der Commission for International Justice and Accountability (CIJA), einer 2012 gegründeten Nichtregierungsorganisation. Er ist sicher, dass die Unterlagen die Verantwortung hochrangiger syrischer Regimevertreter für Verbrechen gegen die Menschheit belegen können. Mehr als 600 000 Dokumente – viele davon aus dem syrischen Geheimdienst – haben Mitarbeiter und Unterstützer der Organisation seit 2012 aus dem Land geschmuggelt. Sie werden in einer westeuropäischen Stadt gelagert, gescannt, registriert und ausgewertet.

Engels, 41 Jahre, kahlköpfig und athletisch gebaut, koordiniert die Auswertung der Dokumente. Jüngst hat die CIJA eine 400-seitige Studie über die systematische Folterung und Ermordung Zehntausender Syrer durch die Sicherheitskräfte des Regimes veröffentlicht. Verbrechen, das belegt die Studie, die direkt auf eine vom Präsidenten gebilligte schriftliche Anordnung zurückgehen. Überlebende der Gefängnisse in Syrien hatten schon lange über systematische, exzessive Gewalt berichtet. Nur gab es keine Belege für eine Anordnung von oben. Doch Damaskus werde regelmäßig über die Ergebnisse der angeordneten Maßnahmen informiert. Die von der CIJA gesammelten Dokumente sind umfangreicher als alles, was erfahrene internationale Strafermittler bislang kannten.

CIJA ist die erste unabhängige NGO, die eine internationale Untersuchung von Kriegsverbrechen des syrischen Regimes durchführt. Die Organisation erhält zwar staatliche Mittel, besitzt aber kein offizielles Mandat zur Strafverfolgung. Dass es sie gibt, ist eher der Frustration ihres Gründers Bill Wiley zuzuschreiben, der als Ermittler von Menschenrechtsverbrechen in Ruanda und im Kongo gearbeitet hatte und allzu oft feststellen musste, dass wichtige Staaten eine Strafverfolgung aus reinem Eigeninteresse verhinderten. Da der erste Schritt für eine internationale Strafverfolgung im Auffinden und Sammeln von Beweismaterial besteht, entschloss sich Wiley, mit dieser Arbeit zu beginnen, obwohl weit und breit kein politischer Wille für eine juristische Aufarbeitung zu sehen war. Inzwischen kann die CIJA laut Wiley „eine ziemlich große Anzahl von Kriegsverbrechern identifizieren“, die für den syrischen Geheimdienst tätig gewesen seien und sich nun in Europa befänden.
 

Der Beginn

Nach dem Beginn der Aufstände in Tunesien und Ägypten 2011 blieb es in Syrien zunächst ruhig – wofür Syriens Präsident Baschar al-Assad in einem Interview mit dem Wall Street Journal zunächst eine einfache Erklärung fand: In seinem Land gäbe es keine Kluft zwischen der Regierungspolitik und den Interessen des Volkes. Allerdings war diese „Ruhe“ eher der Professionalität des syrischen Sicherheitsapparats geschuldet, der den Assad-Clan schon seit 1971 an der Macht hält. Mit der Zeit aber forderten auch immer mehr Syrer politische Reformen für ihr Land, in dem seit 48 Jahren der Ausnahmezustand herrschte. Wie schon so oft in der Vergangenheit reagierte das Regime mit Gewalt. Aber weder Tränengas noch Gewehrkugeln konnten das Entstehen einer landesweiten Anti-Assad-Bewegung verhindern. Die Demonstrationen wurden immer größer, immer häufiger.

Im März 2011 entließ Assad sein Kabinett – aber anders als viele hofften, war dies nicht der Beginn eines Reformprozesses. In einer Rede vor dem syrischen Parlament am 30. März 2011 bezeichnete Assad die Demonstrationen als Teil einer von ausländischen Mächten gesteuerten Verschwörung: „Diesen Aufstand zu begraben, ist eine nationale, moralische und religiöse Pflicht und jeder, der ihn niederschlagen könnte, es aber nicht tut, ist Teil der Verschwörung. Hier gibt es weder Kompromiss noch Mittelweg.“

In den Tagen nach der Rede wuchs die Protestbewegung im Land weiter. Assad hatte bereits den Zentralen Krisenmanagement-Ausschuss gegründet, ein geheimes Sicherheitskomitee zur effizienteren Koordinierung des Kampfes gegen die Opposition. Vorsitzender wurde Mohammad Said Bekheitan, der ranghöchste Offizielle der regierenden Baath-Partei nach Präsident Assad. Die anderen Ausschussmitglieder waren allesamt engste Vertraute des Assad-Clans, die zugleich auch führende Positionen im Militär, den Ministerien und im Geheimdienstapparat bekleideten. Der Ausschuss traf sich jede Nacht. Um einen möglichst genauen Überblick über die Oppositionsbewegung zu gewinnen, forderte er Berichte von den Sicherheitsbehörden in den Unruheprovinzen an. Schnell stellte sich heraus, dass man weiteres Personal bei der Auswertung der Berichtbögen benötigen würde.

Zu den Bewerbern gehörte der 24-jährige Abdelmajid Barakat, der gerade sein Studium der Internationalen Beziehungen abgeschlossen hatte und nun im syrischen Bildungsministerium arbeitete. Zu Beginn der Proteste hatte er sich einer der ersten Revolutionsgruppen angeschlossen. In ihrer Hast, zusätzliche Kräfte für die Entwicklung einer Strategie zur Beendigung der Aufstände zu finden, hatte man einen Oppositionellen eingestellt.

Von nun an hatte Barakat Zugriff auf vertrauliche Sicherheitsberichte aus dem ganzen Land. Fast jeden Tag landeten mehr als 150 Seiten geheimer Memos auf seinem Schreibtisch. Darin wurden anfangs auch kleinere Unmutsbekundungen gegen das Assad-Regime wie Graffitis, Facebook-Einträge oder Straßenproteste detailliert geschildert. Später kamen Berichte über bewaffnete Gruppen hinzu. Barakat fasste die Berichte zusammen und gab sie an seinen Vorgesetzten Salaheddin el-Naimi weiter, der sie den Ausschussmitgliedern vorlegte. Den Besprechungsraum durfte Barakat nie betreten. Aber er sah, wer an diesen Treffen teilnahm. Auf offiziellem Briefpapier der Baath-Partei protokollierte Naimi diese Sitzungen in allen Einzelheiten. Zu den Teilnehmern der Besprechungen gehörten auch der syrische Vizepräsident und Maher Assad, der jüngere Bruder des Präsidenten, den die EU auf ihrer Sanktionsliste als „Hauptverantwortlichen für die Gewaltmaßnahmen gegen Demonstranten“ bezeichnet.

Am Ende jedes dieser Treffen beschloss der Krisenausschuss Maßnahmen zur Bekämpfung des Aufstands. Danach unterzeichnete der Ausschussvorsitzende Bekheitan das Sitzungsprotokoll und schickte es per Kurier an den Präsidenten. Assad überprüfte die Beschlüsse, unterzeichnete sie und schickte sie zur Ausführung an den Krisenausschuss zurück. Manche der Maßnahmen wurden von ihm überarbeitet, manche gestrichen, andere durch neue ersetzt. Keine noch so unwichtige Entscheidung, die die „Sicherheit“ des Landes betraf, so Barakat, wurde ohne Zustimmung Assads getroffen. Offiziell beteuerte das Regime, dass es friedliche Demonstrationen zulasse. In den Berichten zeigte sich ein anderes Bild: Geheimdienstagenten schossen wahllos auf Demonstranten. Schon bald begann Barakat, Berichte heimlich zu fotografieren und an syrische Oppositionelle zu geben. Er wollte so viele Informationen wie möglich entwenden und dann das Land verlassen. Mit jeder durchgesickerten Nachricht lief Barakat größere Gefahr, als Maulwurf enttarnt zu werden.
 

Die Ermittler

Im Oktober 2011 wurde Wiley über einen Bekannten von der britischen Regierung kontaktiert. Man suche Experten wie ihn, die syrische Aktivisten darin ausbilden könnten, Menschenrechtsverletzungen verlässlich zu dokumentieren. Wiley schlug vor, nicht weiter darauf zu setzen, solche Verbrechen „nur“ an die Öffentlichkeit zu bringen. Vielmehr sollte man Unterstützer vor Ort finden, die Beweise sammeln und für eine stichfeste Identifizierung der Schuldigen sorgen, um dann eine Strafverfolgung zu ermöglichen. Die britische Regierung war einverstanden.

Im November 2011 reiste Wiley – groß, rotblond, eher ein Naturbursche als ein Büromensch und einer, der die Belastungen seiner Arbeit mit einer Vorliebe für kubanische Zigarren und Krafttraining kompensiert – nach Istanbul, um Syrer zu finden, die er in der Suche nach Beweismitteln ausbilden könnte. Seine „Schüler“ lernten, in den bombardierten Städten Granatkrater zu fotografieren und auszumessen, Einschlagswinkel zu errechnen, Geschossfragmente zu sammeln, Waffentypen zu ermitteln und Abschusspunkte festzustellen. Am wichtigsten aber war es, Dokumente des Regimes zu finden, denn in internationalen Strafverfahren sind dies die schlagkräftigsten Beweise. Zusammen mit Stephen Rapp, dem damaligen US-Sonderbotschafter für Kriegsverbrechen, entstand die Idee, eine zentrale Lagerstelle für aus Syrien herausgeschmuggelte Dokumente zu errichten. Wohl gab es eine Untersuchungskommission der UN zu Menschenrechtsverletzungen in Syrien. Deren Mandat erstreckte sich aber nicht auf Strafverfolgung; man legte keinen Wert auf die Sicherung von Dokumenten, die eine Verantwortung des Regimes bewiesen, sondern konzentrierte sich auf Zeugeninterviews. Nur konnten diese nicht vor Gericht verwendet werden, denn den Zeugen war Anonymität zugesagt worden. Internationale Strafprozesse aber sind öffentlich.

Finanzielle Unterstützung zu finden, erwies sich als schwierig, obgleich westliche Regierungen jedes Jahr Hunderte Millionen US-Dollar für Menschenrechtsprojekte ausgeben. Mit Hilfe von Stephen Rapp gelang es der CIJA schließlich, drei Millionen Euro von der Europäischen Union zu erhalten. Danach sicherten auch Deutschland, die Schweiz, Norwegen, Dänemark und Kanada längerfristige finanzielle Unterstützung zu.
 

Das Entwenden von Beweismaterial

2012 geriet Assad immer mehr in die Defensive. Die Anzahl von Soldaten, Offizieren und Angehörigen des Regierungsapparats, die sich absetzten und häufig der Freien Syrischen Armee (FSA) anschlossen, stieg drastisch. Gleichzeitig tauchten die ersten Dschihadisten-Gruppen auf, die sich oft besser schlugen als die Kämpfer der FSA. Die Aufständischen eroberten immer mehr Grenzübergänge zur Türkei und zwangen die Regierungstruppen zum Rückzug aus großen Teilen Nordsyriens.

Im Krisenausschuss wurde die Luft für Barakat indes immer dünner. Schon mehrfach war er zum Durchsickern von Geheimdokumenten befragt worden. Er entschied sich zu fliehen, zuvor aber noch einige wichtige belastende Dokumente zu entwenden, darunter Protokolle der Ausschusssitzungen und die Korrespondenzen zwischen dem Ausschuss und den Büros des Präsidenten, des Premierministers und des Innenministers. An einem freien Tag für alle Mitarbeiter durchsuchte Barakat die Büros, packte so viele Dokumente wie möglich zusammen, fuhr etwa 250 Kilometer von Damaskus zur syrisch-türkischen Grenze und überquerte sie unbehelligt mit mehr als 1000 an seinen Körper geklebten Seiten. Als auch seine Mutter einen Monat später sicher aus Syrien ausgereist war, wandte er sich an den Fernsehsender Al-Dschasira mit der Bitte, die Dokumente an den Internationalen Strafgerichtshof zu übergeben. In Syrien verlagerte der Krisenausschuss seine Sitzungen in die hochgesicherten Anlagen des Nationalen Sicherheitsbüros. Im Juli 2012 wurde Assef Shawkat, ein Schwager Assads, Vorsitzender des Sicherheitsbüros und seit Kurzem stellvertretender Verteidigungsminister, durch eine Bombenexplosion getötet; kurz darauf setzten sich auch Assads Premierminister und der Sprecher des Außenministeriums ab.

Der CIJA begann, mit Kräften der FSA zusammenzuarbeiten. Anfänglich zeigten die Rebellen kein Interesse an Dokumenten. Wurde ein Regierungs­gebäude gestürmt, erzählt Wiley, durchsuchte man es nach Waffen, machte Fotos – und fackelte das Gebäude häufig ab. Potenzielles Beweismaterial wurde oft zerstört. Wiley machte sich daran, den Rebellen ein anderes Vorgehen beizubringen. Wenn Beweise vor Gericht Gültigkeit haben sollten, dann müssten sie Dokumente an sich nehmen, in Kartons packen, mit Frischhaltefolie versiegeln, sie verstecken, bis sie außer Landes gebracht werden könnten und Notizen über den Fundort anfertigen. Unter keinen Umständen dürften sie sie durchwühlen, da die Verteidigung sonst immer behaupten könnte, die Akten seien manipuliert worden. Natürlich versuchten Regierungstruppen, belastendes Material zu zerstören, wenn eine Übernahme durch Rebellen drohte. Oftmals wurde auch nach einem Rückzug noch rücksichtslos bombardiert. Hunderttausende Seiten von Dokumenten wurden so zerstört, bevor sie ge­sichert werden konnten.

Der Transport der Dokumente über internationale Grenzen ist der mit Abstand gefährlichste Teil jeder CIJA-Operation. Papier ist schwer und damit verfänglich für den Träger; Fotografien wiederum zwar einfacher zu transportieren, aber vor Gericht schwieriger zu authentifizieren. Kleinere Ladungen lassen sich in Koffern transportieren, größere bedürfen aufwändiger Logistik. 600 000 Seiten Papier wurden bisher aus Syrien herausgeholt, das sind mehrere Tonnen. Die CIJA gibt enorme Summen allein für den Transport, für Fahrzeuge oder die Aufklärung von Kontrollpunkten aus. Manche Dokumente bleiben monatelang versteckt. Zuweilen gehen sie auch einfach verloren. In einem Fall verbrannte eine ältere Frau die Papiere während eines kalten Winters in Ermangelung anderen Heizmaterials. Sie hatte nicht gewusst, um was es sich da handelte. Bis zu einer halben Million Seiten befänden sich noch in präzise vermerkten Verstecken, sagt Wiley.

Während die Syrer Regierungsdokumente sammelten, warb Wiley militärische und politische Analysten, Ermittler, Übersetzer und Anwälte in Europa an. Im Jahr 2015 war das Budget der CIJA auf acht Millionen Dollar jährlich angewachsen. Mittlerweile beschäftigt die Organisation 150 Mitarbeiter. Viele Dokumente, die bislang gesichert werden konnten, stammen aus Einrichtungen des Geheimdiensts außerhalb von Damaskus und beziehen sich auf die Entscheidungen des Krisenausschusses. Um die Befehlskette zu vervollständigen, benötigte die CIJA die Protokolle der Ausschusssitzungen: Barakats Dokumente, die er aus dem Krisenausschuss herausgeschmuggelt hatte. Die Originaldokumente sind, so Barakat, mit einem geprägten Siegel am oberen Seitenrand versehen und mit grüner Farbe unterzeichnet. Die CIJA durfte dieses Material einsehen, um eine Verbindung zwischen den Entscheidungen des Krisenausschusses und dem verbrecherischen Verhalten der Sicherheitskräfte außerhalb von Damaskus herstellen zu können. Barakat wird die Originale, die in einem Versteck gelagert sind, zur Verfügung stellen, sollten die Ermittlungen der CIJA zu einem Prozess führen. Zusätzlich interviewten die syrischen Ermittler der CIJA rund 250 Opfer des syrischen Regimes in verschiedenen Provinzen des Landes, um Schuldige an Kriegsverbrechen zu identifizieren und um zu beweisen, dass die Verbrechen systematisch verübt wurden und mit den Anweisungen in den Dokumenten übereinstimmen.
 

Die Aktivisten

Mazen al-Hamada ist ein magerer Mann von 38 Jahren, geboren in der ost­syrischen Stadt Deir ez-Zor als jüngstes von 17 Kindern einer Mittelstands­familie. Er ist keiner der Zeugen der CIJA; deren Identität soll geheim bleiben, bis sie eines Tages vor Gericht aussagen können. Aber seine Geschichte ist ­exemplarisch. Wie seine Geschwister – Apotheker, Lehrer, Anwälte – hatte auch Hamada einen guten Job als Angestellter einer Ölfirma. Und wie so viele in seiner Familie kritisierte auch er die Politik eines Regimes, das die Kluft zwischen Arm und Reich immer weiter wachsen ließ und nur den eigenen Eliten diente. Für Deir ez-Zor war dies alles andere als außergewöhnlich. 2011 berichtete der Chef des Nationalen Sicherheitsbüros an den Vorsitzenden des ­Krisenausschusses, dass es einen Mangel an Patriotismus in Deir ez-Zor gebe, der „dem korrupten Justizsystem, den langen Verzögerungen bei Gerichtsprozessen, Nepotismus und dem weitverbreiteten Schmiergeldsystem“ geschuldet sei.

An Loyalität für Assad ließen die Sicherheitsbehörden in der Provinz dennoch nichts zu wünschen übrig. Als Reaktion auf die ersten Anzeichen von Unruhe in der Region befahl der Chef der Sicherheitsbehörden in Deir ez-Zor, Brigadegeneral Jameh Jameh, im Februar 2011 seinen Untergebenen, „Kameras vorzubereiten […], um Aufrührer und Teilnehmer identifizieren und in Zukunft zur Rechenschaft ziehen zu können“. Dabei führte man auch die trivialsten Aufträge treu aus. Am 4. Februar unterzeichnete der Chef des Nationalen Sicherheitsbüros in Damaskus den Befehl, die Person „zu ermitteln, zu suchen und zu verhaften“, die auf ein Abflussrohr an einem abgelegenen Autobahnabschnitt nahe Deir ez-Zor die Worte „Nieder mit Baschar“ geschrieben hatte. Die Ermittlungen blieben erfolglos.

Mitte März 2011 noch beschrieben die Sicherheitskräfte in Deir ez-Zor die Ursachen der Unruhen recht wahrheitsgemäß: In einem Telegramm an seine Untergebenen in der Provinz erklärte Brigadegeneral Jameh, die Proteste in Syrien seien beeinflusst „von einigen arabischen Ländern, in denen Jugendliche für Wandel, Demokratie, Freiheit, höhere Lebensstandards und gegen Korruption rebellieren“. Ende des Monats und nur Stunden nach Assads Rede vor dem Parlament am 30. März hatte man schon die Verschwörungsrhetorik aus Damaskus übernommen. Jetzt sprach man von Verrat, Aufwiegelung, ausländischer Unterwanderung und einem „zionistisch-amerikanischen Unterfangen“.

Hamada und seine Freunde aber hofften auf das Entstehen einer breiten Bewegung, die dafür sorgen würde, dass sich etwas ändert. Jeden Freitagnachmittag traf man sich in der lokalen Moschee, um nach dem Gebet Proteste zu organisieren – was rein logistischen Überlegungen geschuldet war. Hätte man sich in Kirchen getroffen, so Hamada, hätte man eben nach der Messe demonstriert.

Den Protokollen des Sicherheitskomitees zufolge sollten die Gebete in der Moschee mit einigen Hundert loyalen Anhängern der Baath-Partei unterwandert werden. Das misslang gründlich. Nur eine Woche später informierte Deir ez-Zors Gouverneur das Komitee, dass „die meisten Männer, die von den Sicherheitskräften verhaftet wurden, Parteikameraden waren“. Sie hatten die Seiten gewechselt und sich den Demonstranten angeschlossen. Hamada filmte die Proteste sowie die zunächst noch zurückhaltenden Reaktionen der Sicherheitskräfte und veröffentlichte sie auf YouTube. Noch lautete der Befehl Jamehs, dass „es allen Agenten ausdrücklich untersagt ist, das Feuer auf Demonstranten zu eröffnen“.

Im Mai verschlechterte sich die Sicherheitslage in der Provinz drastisch. Vermummte, mit Schlägern, Pistolen und Brandbomben bewaffnete Männer setzten zwei Polizeistationen, vier Polizeiautos und sechs Polizeimotorräder in Brand. Der Chef der Sicherheitskräfte in Deir ez-Zor warnte vor einer Welle von Attentaten auf Staatsbedienstete. Hamada, der schon zwei Mal für kurze Zeit verhaftet worden war, organisierte weiter Proteste, verbrachte mit einigen anderen Aktivisten aber fortan die Nächte nicht mehr zu Hause.

Ende Mai noch warnte Jameh in einer Sitzung des Sicherheitskomitees, dass man durch die Festnahme von Regimegegnern die Wut in deren Familien anheizen würde. In mehreren Memos wandte er sich strikt gegen die Folter von Gefangenen: Die Häftlinge würden durch Stromschläge, das Ausdrücken von Zigaretten auf der Haut, durch „ekelerregende Schläge auf alle Körperteile“ gequält oder sodomisiert, indem man sie zwänge, sich auf Flaschenhälse zu setzen. Er würde sich weigern, in seinem Gefängnis Folteropfer aufzunehmen – „es sei denn, es gibt einen schriftlichen Bericht über den Gesundheitszustand des Gefangenen […], der den Namen der Person beinhaltet, die ihn gefoltert hat“. Im Verlaufe des Sommers 2011 schwanden seine Skrupel. Beweismaterial der CIJA zeigt, dass Gefangene, die in Jamehs Gefängnissen einsaßen, ebenfalls mit Fäusten, Kabeln und Stöcken geprügelt wurden, bis sie bewusstlos waren; dass man ihnen Knochen brach und Zähne ausschlug; dass man sie mit Wasser übergoss und mit Elektroschocks quälte. Manche starben unter der Folter. Jameh nahm persönlich an vielen dieser „gewaltsamen Befragungen“ teil.
 

Die Aufträge

Anfang August 2011 beschloss der Krisenausschuss im Regionalquartier der Baath-Partei in Damaskus, dem „laxen Umgang“ mit der Krise und der Ausweitung der Unruhen auf mehrere Provinzen Einhalt zu gebieten. Zunächst sollten alle lokalen Sicherheitskräfte tägliche Razzien gegen die Organisatoren von Demonstrationen und „diejenigen, die das Bild Syriens in der ausländischen Presse beschmutzen“, durchführen. Sobald jeder Bereich von den gesuchten Personen „gereinigt“ worden sei, würden die Sicherheitskräfte in einem zweiten Schritt mit Unterstützern der Baath-Partei, regimetreuen Milizen und lokalen Würdenträgern zusammenarbeiten, um ein Wiedererstarken der Oppositionskräfte zu verhindern. Drittens würde man „einen gemeinsamen Untersuchungsausschuss auf Provinzebene errichten“, der aus Angehörigen aller Zweige des Sicherheitsapparats bestehen und Verhaftete befragen würde. Schließlich würden die Ergebnisse der Ermittlungen „an alle Sicherheitsorganisationen geschickt werden, sodass sie für die Identifizierung neuer Ziele, die verfolgt werden müssen, genutzt werden können“.

Diese Maßnahmen wurden der Dreh- und Angelpunkt der Ermittlungen der CIJA gegen das Assad-Regime. Anhand der Dokumente, die Barakat in Damaskus entwendet hatte, und der 600 000 Seiten, die die Kommission selbst in ganz Syrien gesichert hatte, konnten CIJA-Analysten die Umsetzung dieser Anordnungen entlang mehrerer Befehlsketten des Krisenausschusses rekonstruieren. Hischam al-Ichtiyar, der Vorsitzende des Nationalen Sicherheitsbüros, verschickte die Instruktionen an alle Regionalsekretäre der Baath-Partei (sie waren zugleich auch die Vorsitzenden der Sicherheitskomitees in ihren Provinzen) mit dem Befehl, „das durchzuführen, was von Ihnen erwartet wird, sodass diese Krise schneller beendet wird“. Die Vorsitzenden der vier Sicherheitsbehörden – Militärgeheimdienst, Luftwaffengeheimdienst, politische Sicherheit und Allgemeines Geheimdienstdirektorat – schickten die Anordnungen an alle regionalen Sicherheitschefs, die sie an die lokalen Sicherheitskräfte weiterleiteten. Mitglieder des Krisenausschusses reisten in besonders unruhige Provinzen, um den Aufbau der gemeinsamen Untersuchungsausschüsse zu koordinieren. Für die CIJA war es einfach, die betreffenden Personen zu identifizieren. Ihre Namen waren auf allen Dokumenten vermerkt.

Für eine Strafverfolgung ist es wichtig zu dokumentieren, dass Befehle erteilt wurden, dass aber nach oben auch „Vollzugsberichte“ gemeldet wurden. Es bedarf der Bestätigung, dass Verdächtige verhaftet und befragt wurden und die Führung in Damaskus über die Misshandlung von Gefangenen in den Provinzen informiert war. „Fortlaufendes Unvermögen, seine Untergebenen von völkerrechtswidrigen Maßnahmen abzuhalten, wird strafrechtlich verfolgt“, sagt Wiley, denn das Prinzip der Vorgesetztenverantwortlichkeit sei im Völkerrecht ganz klar geregelt. Der Krisenausschuss forderte Listen aller vollzogenen Verhaftungen. Einige Mitglieder der regionalen Sicherheitskomitees kamen den Anordnungen sogar zuvor. In Raqqa fand sich die Kopie eines Befehls des Krisenausschusses mit der Anmerkung: „Das haben wir schon vor langer Zeit gemacht“.

Völkerrechtlich sind Regierungen verpflichtet, Berichten von Menschenrechtsverletzungen nachzugehen. In den CIJA-Dokumenten befinden sich drei Faxe des Staatsanwalts in Deir ez-Zor an den Gouverneur, den syrischen Justizminister und den Vorsitzenden des regionalen gemeinsamen Untersuchungsausschusses, datiert vom September 2011. Darin bat der Staatsanwalt, nicht weiter syrisches Recht zu verletzen: „Die Eltern und Verwandten der Verhafteten erkundigen sich täglich nach dem Schicksal ihrer Söhne, Väter und Brüder. Sie sollten sich anhören, was sie zu sagen haben. Die Kühlräume in den Krankenhäusern hier sind gefüllt mit nicht identifizierten Leichen, die schon im Zustand der Verwesung sind.“
 

Die Verhaftung

Mazen al-Hamada wurde verhaftet, als er auf Bitten eines Arztes versuchte, zusammen mit seinen Neffen Babynahrung in einen aufständischen Vorort von Damaskus zu bringen. Der Auftrag war eine Falle. Agenten des Regimes schnappten Hamada und seine Neffen, zogen ihnen die Hemden über den Kopf und stießen sie in einen SUV. Am Ziel angelangt, hatten sie sich bis auf die Unterhose auszuziehen, man verprügelte sie und steckte sie mit 40 anderen Gefangenen in einem Raum von zwölf Quadratmetern. Sie befanden sich, erfuhren sie später, in einem Gefängnis des Luftwaffengeheimdiensts auf dem Gelände des Al-Mezzeh-Militärflughafens, einer der berüchtigsten Haftanstalten Syriens. Zwei Wochen später wurden sie zusammen mit etwa 170 Menschen in einen Hangar gebracht, kaum größer als zwölf mal sechs Meter. Die Gefangenen durften sich nicht waschen, nicht ihre Unterwäsche wechseln, sie litten unter offenen Wunden und Krätze. Wahnsinnig vor Durst tranken sie Wasser aus Toiletten. Manche erlagen ihren Krankheiten, manche verhungerten, andere verloren den Verstand.

Eines Tages wurde auch Hamada zum Verhör gebracht. Der Chefermittler, der sich Suhail nennen ließ, befragte ihn nach Regimegegnern. Hamada schwieg. Anfangs drückte man glühende Zigaretten auf seinen Beinen aus. Dann übergoss man ihn mit Wasser und versetzte ihm Elektroschocks. Hamada nannte die Namen einiger Aktivisten in Deir ez-Zor, die schon umgekommen waren. Das war Suhail nicht genug. Er wollte wissen, wie viele Soldaten Hamada getötet hätte, welche Waffen er besäße, wie viel Schuss Munition. Hamada hatte niemanden getötet, und er besaß weder Waffen noch Munition. Man hängte ihn an Handschellen gekettet auf, die Füße 40 Zentimeter über dem Boden baumelnd, man brach ihm vier Rippen. Bis Hamada gestand, was Suhail hören wollte. In Hunderten von Zeugeninterviews ermittelte die CIJA ähnliche Befragungspraktiken bei allen syrischen Sicherheitsbehörden. Menschen wurden aufgrund willkürlicher Entscheidungen des Krisenausschusses verhaftet. Die Ergebnisse ihrer Befragungen wurden im Anschluss nicht nur zur Identifizierung „neuer Ziele“ genutzt, sondern auch an verschiedene Behörden weitergeleitet. Oft wurden Häftlinge monate- oder jahrelang ohne Anklage festgehalten.

Erzwungene Geständnisse nützen nichts, verleihen aber zumindest den Verhaftungen einen Anstrich von Legalität. Nach ihren Geständnissen konnten Regimegegner schwerer Verbrechen beschuldigt und im Fall einer Verurteilung für Jahre in Haft gehalten werden; und diese Geständnisse bestätigten die Mär von Hochverrat und einer großen Verschwörung. Manche Angehörige der Sicherheitskräfte versuchten, ihre Häftlinge zu Geständnissen zu bewegen, um nicht foltern zu müssen. Die meisten, sagt Chris Engels von der CIJA, „waren felsenfest davon überzeugt, Ergebnisse liefern zu müssen und die Konsequenzen für Leute, die ihre Arbeit nicht zur Zufriedenheit erledigten, waren äußerst hart“. In einer Anordnung des Sicherheitskomitees zur Verfolgung von Aufrührern wies man die Chefs der lokalen Sicherheitsbehörden dazu an, „dem Nationalen Sicherheitsbüro regelmäßig die Namen von Agenten mitzuteilen, die unentschlossen oder unenthusiastisch sind“. Manche von ihnen landeten in der gleichen Zelle wie Hamada.
 

Krankenhaus 601

Anfang 2013, nach mehrfachen Folterungen und fast einem Jahr in Haft, sollte Hamada in das Krankenhaus 601 – ein Militärhospital am Fuß des Berges Mezzeh – verlegt werden. Anstelle seines Namens bekam er jetzt eine Nummer: 1858. Von den wenigen Mitgefangenen, die in das Krankenhaus 601 verlegt worden und wieder zurückgekommen waren, wusste Hamada: 601 war keine Klinik, sondern ein Schlachthaus. Nach Ankunft wurde er ans Bett gekettet, von einer Krankenschwester nach seinen Beschwerden gefragt – Hamada hatte offene Wunden an den Beinen und urinierte Blut – und dann geschlagen. Eines Nachts bat Hamada, zur Toilette gehen zu dürfen. In den Kabinen fand er Leichen vor, die grausame Folterspuren aufwiesen. Ein Bericht der Vereinten Nationen stellt fest, dass im Krankenhaus 601 viele Patienten zu Tode gefoltert wurden. Leichen in Toiletten zu lagern, so der Bericht, war Praxis in mehreren Sicherheitseinrichtungen in Damaskus.

Hamada bettelte darum, wieder ins Gefängnis zurückgebracht zu werden. Fünf Tage nach Einlieferung wurde er von den gleichen Wächtern abgeholt, die ihn in das Krankenhaus 601 gebracht hatten. Nach Ankunft hängten sie ihn für vier Stunden an den Handgelenken auf. Im Juni 2013 wurde Hamadas Fall der Justiz übergeben. Man brachte ihn in ein reguläres Gefängnis, wo er einen Antrag auf Nachweis der Anschuldigungen gegen ihn stellte. (Syrische Gefängnisse unterliegen im Unterschied zu den Einrichtungen der Sicherheitsdienste richterlicher Aufsicht.) Er sei, hieß es im Antwortschreiben, „wegen des Verbrechens des Terrorismus“ angeklagt und seit dem 5. Juni 2013 in Haft – dem gleichen Tag, an dem Anklage gegen ihn erhoben worden war. Die 15-monatige Haft im Geheimdienstgefängnis gab es offiziell nicht.

In den Morgenstunden des 21. August griff die syrische Regierung dicht besiedelte Stadtteile von Damaskus mit Raketen an. Die Projektile waren mit ­Sarin-Gas gefüllt. Mehr als 1400 Menschen wurden getötet. US-Präsident Barack Obama drohte (zunächst) mit Vergeltungsschlägen. Kurz nach dem Chemiewaffeneinsatz wurden Hamada mit vielen anderen Gefangenen in einen leeren Hangar auf dem Militärflughafen Al-Mezzeh gebracht. Heute geht man davon aus, dass mindestens eine der Sarin-Gas-Raketen von dort abgefeuert wurde, dass er also ein mögliches Ziel für US-Luftangriffe war. Die Wächter jedenfalls riefen ihren Gefangenen noch höhnisch zu, dass sie alle getötet würden, wenn die Amerikaner Syrien bombardierten. Als keine Bombardierungen stattfanden, wurden die Gefangenen zurück in das Gefängnis in Damaskus gebracht, wo Hamadas Fall endlich zur Verhandlung kam. Nachdem er seine Folterspuren zeigte, befand ihn der Richter in allen Anklagepunkten für nicht schuldig.

Hamada kehrte zurück in seine Heimatstadt. Zwei Jahre war intensiv um die Stadt gekämpft worden. Viele Gebäude waren zerstört, zwei seiner Neffen wurden noch immer im Geheimdienstgefängnis in Damaskus festgehalten; andere Familienmitglieder waren spurlos verschwunden. Deir ez-Zor war eine Geisterstadt, und aus dem Aufstand für politische Reformen war ein Glaubenskrieg geworden. Noch gab es moderate Rebellen, die aber oft von korrupten Warlords kommandiert wurden und die den dschihadistischen Kämpfern nicht gewachsen waren. In Deir ez-Zor herrschte der Islamische Staat, der, so Hamada, „alle Medien- und Demokratieaktivisten auf möglichst spektakuläre, durch Hollywood-Filme inspirierte Art umbrachte“. Hamada floh in die Türkei, mit Hilfe von Schleppern nach Griechenland und weiter in die Niederlande, wo eine seiner Schwestern lebt.

Hamadas Aussagen über die Gräueltaten im Krankenhaus 601 wurden später durch etwa 55 000 Fotos bekräftigt, die von einem syrischen Militärpolizisten mit dem Decknamen Caesar herausgeschmuggelt worden waren. Er hatte die USB-Sticks mit den gespeicherten Fotos in seinen Socken versteckt. Die Toten, die Caesar und einige Mitaktivisten im Krankenhaus 601 abgelichtet hatten, waren, wie Hamada, mit einer Nummer gekennzeichnet, die man ihnen zum Teil mit Textmarker auf die Stirn oder die Brust geschmiert hatte. Alle, und er fotografierte oft mehr als 50 am Tag, wiesen schwerste Zeichen von Folter auf. In den Sterbeurkunden hatte ein Arzt als Todesursache „Herzversagen“ vermerkt. Nur etwa 730 Opfer konnten bislang identifiziert werden. Auf einigen Bildern erkannte Hamada Zellengenossen wieder.
 

Endspiel

Wiley und Engels glauben, dass die CIJA ausreichend Material besitzt, um Assad und seine Helfer der Verbrechen gegen die Menschheit überführen zu können – sollte es zu einer Verhandlung kommen. Dass solche Verbrechen begangen würden, bestreitet das Regime in einem offiziellen Antwortbrief der syrischen UN-Delegation auf eine Anfrage der Vereinten Nationen: „Wir haben keine Bürger verhaftet, die an friedlichen Protesten teilgenommen haben. Was Individuen betrifft, die mit Waffengewalt oder durch terroristische Akte den Staat angegriffen haben, das ist natürlich eine ganz andere Sache.“ In den vergangenen Monaten hat die syrische Armee wieder Territorium von den Rebellen zurückerobert. Dass Assad freiwillig zurücktreten könnte, wird immer unwahrscheinlicher. Wiley und die CIJA-Mitarbeiter vermeiden es, über einen Regimewechsel in Syrien zu sprechen. Aber er sei doch optimistisch, dass „wir unsere Arbeit in naher Zukunft vor Gericht präsentieren können“.

Hamada bekommt in den Niederlanden psychotherapeutische und medizinische Hilfe. Er lernt holländisch und organisiert Anti-Assad-Proteste, selbst wenn nur wenige Menschen kommen. Seine Neffen, ein Bruder und viele Freunde sind noch immer in Haft oder verschwunden. Eine Schwester in Syrien hat bei der Militärpolizei um Sterbeurkunden gebeten. Vergeblich.

Ben Taub ist Autor von newyorker.com. Diese Reportage wurde durch ein Stipendium des Pulitzer Center on Crisis Reporting ermöglicht.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 5, September/ Oktober 2016, S. 114-125

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