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01. Nov. 2016

So funktioniert präventive Diplomatie

Es werden dringend Fortschritte in der Früherkennung von Krisen gebraucht

Die Berichte der International Crisis Group aus Krisengebieten erlauben es, Schlussfolgerungen über die Früherkennung von Konflikten zu ziehen. Sie fordern kontinuierliches politisches Engagement, mehr Beachtung der Peripherie und mehr Autonomie für Diplomaten vor Ort – damit vorhersehbare Krisen uns künftig nicht mehr „überraschen“.

Wo wird die nächste Krise ausbrechen und die europäische Sicherheitspolitik aufs Neue herausfordern? Wie entwickelt sich die Lage in den bis­herigen Brennpunkten? Russland sorgt in den östlichen Grenzgebieten der NATO weiterhin für Unruhe. Unzählige Kriege wüten im Nahen und Mittleren Osten. Und Aufstände islamistischer Gruppierungen in der Sahel-Region führen dazu, dass immer mehr Menschen nach Europa flüchten.

Doch die nächste Krise kann uns auch ganz unverhofft treffen, wie jüngst der Putschversuch in der Türkei. Europäische und amerikanische Politikbeobachter taten sich in jüngster Zeit schwer, hereinbrechende Krisen rechtzeitig zu identifizieren – seien es die arabischen Revolutionen 2011 oder Moskaus aggressive Reaktion auf die Aufstände in der Ukraine.

Insbesondere in einer Zeit, in der an Europas Grenzen neue Konflikte ausbrechen, müssen die EU und NATO entscheidende Fortschritte bei der Früherkennung solcher Krisen machen.

Diese Forderung wird auch in ­neuen Dokumenten aus Berlin und Brüssel erhoben. Das im Juli erschienene Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr unterstreicht die Bedeutung eines ganzheitlichen Ansatzes der „frühzeitigen Erkennung und Prävention von Staatszerfall“, der sowohl diplomatische als auch sicherheits- und entwicklungspolitische Werkzeuge umfassen soll. Im Juni 2016 hat die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini eine neue Globalstrategie herausgegeben, in der unter anderem eine politische Kultur der schnellen Reaktion auf die Risiken gewaltsamer Konflikte gefordert wird. Damit geht sie auf das Versprechen der 2015 erschienenen Nationalen Sicherheitsstrategie der USA ein, amerikanische und internationale Fähigkeiten zu stärken, um inner- und zwischenstaatliche Konflikte zu verhindern.

Es scheint also, als sei Konfliktprävention ein zentrales Thema. Aber weiß überhaupt jemand, wie sie funktioniert?

In den vergangenen Jahren mangelte es sicherlich nicht an Projekten zur Konfliktprävention. Die Weltbank hob hervor, wie Entwicklungsorganisationen in Good-Governance-Programme investieren können, um schwache Staaten zu stabilisieren. Die NATO war bemüht, ihre Abschreckungsstrategie zu erneuern, um Russlands hybrider Kriegführung etwas entgegenzusetzen. Europäische, afrikanische und UN-Truppen sind zurzeit in Mali und der Sahel-­Region stationiert, um die Ausbreitung von dschihadistischen Gruppierungen einzudämmen.

Leider ist es in der Regel leichter, Unterstützung zu versprechen oder sogar Truppen zu entsenden, als die den Krisen zugrundeliegenden politischen Ursachen zu beseitigen. Es sind oftmals wirtschaftliche und soziale Faktoren, die zu Konflikten führen, und Veränderungen wie der Klimawandel, die bereits schwache Staaten unter noch größeren Druck setzen. Dennoch sind es häufig einzelne Personen wie politische Führungskräfte, Generäle oder Rebellen, die letztendlich die Krise auslösen oder zur Eskalation bringen.

Die Geschichten dreier Staatschefs veranschaulichen diesen Punkt. Zunächst zwei Negativbeispiele: 2011 stürzte der syrische Präsident Baschar al-Assad sein Land in einen furchtbaren Bürgerkrieg, indem er größtenteils friedliche Proteste mit Gewalt niederschlug. Ähnlich entfachte 2013 der damalige Präsident Viktor Janukowitsch die Ukraine-Krise, indem er seine Fähigkeit, Russland und die EU in den Verhandlungen über das Freihandelsabkommen gegeneinander auszuspielen, massiv überschätzte und die Proteste in Kiew mit roher Gewalt beantwortete. Wäre Assad zu einem Kompromiss bereit gewesen und wäre Janukowitsch der Balanceakt zwischen Russland und der EU besser gelungen, hätten die Kriege in ihren Ländern verhindert werden können.

Anders verlief es in Nigeria, wo 2015 eine Krise verhindert werden konnte, weil Präsident Goodluck Jona­than bereit war, nach den verlorenen Wahlen auch tatsächlich schnell und widerstandslos zurückzutreten. Zuvor hatte es nämlich besorgnis­erregende Anzeichen gegeben, dass seine Anhänger im Süden des Landes womöglich mit Gewalt auf eine Niederlage reagieren würden. Internationale Persönlichkeiten wie US-Außenminister John Kerry und die nigerianische Zivilgesellschaft bemühten sich intensiv, Goodluck dazu zu bewegen, die Wahlergebnisse zu akzeptieren. Seine Entscheidung, dies zu tun, hat das Land wahrscheinlich vor größerem Chaos bewahrt.

Mehr politisches Engagement

Wollen international agierende Organisationen wie die EU und Staaten wie Deutschland tatsächlich drohende Konflikte abwenden, müssen sie sich einem tiefgreifenden politischen Engagement wie in Nigeria verschreiben. Dies bedeutet nicht, dass andere Mittel wie finanzielle Unterstützung nicht hilfreich sind. Doch wenn sich ein Staat an der Grenze zum gewaltsamen Zerfall befindet, müssen ­Diplomaten und Politiker weiterhin persönliche Kontakte zu wichtigen Entscheidungsträgern aufrechterhalten – in der Hoffnung, deren Handlungen beeinflussen zu können. Bundeskanzlerin Angela Merkel musste dies in der Ukraine-Krise mühsam lernen, als sie in direkten Verhandlungen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin versuchte, die Krise einigermaßen unter Kontrolle zu bringen.

Ein Ende Juni erschienener Bericht der International Crisis Group zum Thema Früherkennung und frühzeitige Maßnahmen in Krisen unterstreicht die Bedeutsamkeit ­solcher politischen Kontakte und deren Aufrechterhaltung selbst in Zeiten großer Spannungen. Der Bericht basiert auf den Ergebnissen der vor Ort angefertigten Crisis-Group-Berichte über Konfliktherde von Venezuela bis Ostasien und zieht aus diesen Erfahrungen drei allgemeine Schlussfolgerungen, wie man Krisen frühzeitig identifizieren und auf erste Anzeichen reagieren kann.

Dynamiken im Sicherheitsapparat

Danach ist es unverzichtbar, ein Verständnis der politischen Dynamiken innerhalb des Militärs und der Sicherheitsapparate des gefährdeten Landes zu entwickeln. Es mag offensichtlich erscheinen, dass ein übermächtiges Militär, wie die ägyptische Armee, eine Gefahr für Stabilität und eine zivile Regierung ist.

Ebenso kann ein schwacher oder korrupter Sicherheitsapparat interne Konflikte schnell zuspitzen: Die unkoordinierten und brutalen Versuche der nigerianischen Truppen, die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im Norden des Landes zu bekämpfen, haben zu noch größerer Gewaltbereitschaft unter den Aufständischen geführt.

Dennoch scheinen externe Beobachter diese Entwicklungen in den Sicherheitsapparaten anderer Länder oftmals zu übersehen. So haben die USA seit den Anschlägen des 11. September in vielen Ländern nationale Armeen in Anti-Terror-Taktiken trainiert. Nicht selten haben sich diese Truppen dann selbst in Quellen der Instabilität verwandelt. 2013 war es ein durch die USA ausgebildeter Militär, der in Mali einen Putsch anführte, welcher das Land ins Chaos stürzte und es den islamistischen Gruppierungen im Norden ermöglichte, ihre Macht auszubauen. Dies war jedoch keine echte Überraschung, denn ein Wissenschaftler der Crisis Group hatte vor dem Coup berichtet, dass in der malischen Hauptstadt Bamako zahlreiche Gerüchte über militärische Unruhen und destabilisierende Kontakte zwischen Militär und Drogenhändlern kursierten.

Auch der Putschversuch in der Türkei war durchaus vorhersehbar. Experten vor Ort hatten bereits Anfang des Jahres gewarnt, dass das Militär womöglich plane, die Macht zu ergreifen – und dennoch schienen amerikanische und europäische Politiker vollkommen überrascht. Es ist also nicht nur wichtig, persönliche Kontakte zu den jeweiligen Entscheidungsträgern der gefährdeten Länder aufrechtzuerhalten, sondern ebenfalls Beziehungen mit Generälen, Polizei und Geheimdienstchefs aufzunehmen, um darauf vorbereitet zu sein, wie diese im Falle gefährlicher Entwicklungen reagieren – selbst wenn dies bedeutet, in Kontakt mit überaus zwielichtigen Persönlichkeiten zu treten.

Gefahr aus der Peripherie

Ein weiteres Fazit der ­Crisis-Group-Berichte ist die Notwendigkeit, auch außerhalb der Hauptstädte und wirtschaftlichen Zentren der betroffenen Länder Kontakte aufzubauen. Viele der jüngeren Konflikte brachen in armen und wenig beachteten Regionen schwacher Staaten aus und Beobachter nahmen diese Entwicklungen erst sehr spät wahr. Ein prägnantes Beispiel ist dabei die Entwicklung im ­Jemen 2014.

Das Land erschien zunächst als die Erfolgsgeschichte des Arabischen Frühlings. 2011 gelang es westlichen und arabischen Diplomaten, einen Bürgerkrieg zu verhindern, und in den folgenden Jahren leiteten UN-­Repräsentanten Verhandlungen über eine neue politische Ordnung. Vertieft in diesen Prozess, übersah die internationale Gemeinschaft die Gefahren, die der Aufstand der Huthis im Norden des Landes barg – eine schiitische Gruppierung, die bis dahin politisch kaum aufgefallen war. Bis die Rebellen kurz davor waren, die Hauptstadt Sanaa einzunehmen. Somit zerstörten die Aufstände der Huthis alle bis dato erreichten politischen Fortschritte, denn es kam zu einer aggressiven militärischen Intervention durch Saudi-Arabien, um die Huthis zu vertreiben.

Andere Aufstände in peripheren Regionen hatten ähnlich beunruhigende Auswirkungen: Als 2012 eine ziemlich heterogene Gruppe Aufständischer im Norden der Zentralafrikanischen Republik Unruhen auslöste, fand dies zunächst weder im Land selbst noch außerhalb viel Beachtung. Trotzdem schafften es die Rebellen sehr bald, nicht nur die Hauptstadt einzunehmen, sondern auch die Regierung zu stürzen und Massengewalt auszulösen. Einen ­drohenden Ge­nozid fürchtend, entsandten Frankreich, die Europäische Union und die Vereinten Nationen jeweils Truppen zur Wiederherstellung der politischen Ordnung – eine kostspielige Maßnahme, die notwendig wurde, weil man nicht früher auf die Entwicklungen reagiert hatte.

Um derartige „­Überraschungen“ in Zukunft zu vermeiden, ­sollten Diplomaten und internationale Amts­träger mehr Zeit in peripheren Regionen verbringen und sich mit Führungskräften vor Ort treffen, um mögliche Gefahren rechtzeitig einschätzen zu können. Dies ist jedoch nicht ganz einfach in Anbetracht der oftmals ­strikten Sicherheitsvorschriften, die den Bewegungsraum von Diplomaten stark eingrenzen.

Internationalisierung von Konflikten

Darüber hinaus unterstreicht die Crisis Group in ihren Schlussfolgerungen die Notwendigkeit, auch nach außen zu schauen und zu analysieren, wie regionale und internationale Spannungen eine Krise beeinflussen können. Zwar werden viele Kriege heutzutage innerhalb von Staaten ausgetragen, doch in vielen sind auch außenstehende Mächte involviert. Syrien, Libyen und Südsudan haben gezeigt, wie Regionalmächte lokale Konflikte zu Stellvertreterkriegen machen, indem sie zum Blutvergießen beitragen und sich Friedensverhandlungen in den Weg stellen.

Russlands Interventionen in der Ukraine und in Syrien sind die bekanntesten Beispiele einer solchen Einmischung von außen; sie stehen damit für einen Trend in Richtung Internationalisierung von Bürgerkriegen, die zum Markenzeichen künftiger Kriege werden könnte, besonders an Europas östlichen und südlichen Grenzen.

Dies bedeutet, dass bei der Konfliktprävention sehr genau abgewogen werden muss zwischen der Bekämpfung unmittelbarer Auslöser einer Krise und regionalen Faktoren, die eine solche Krise verschlimmern könnten. In solchen Fällen sollte der so genannten Rahmendiplomatie besonderes Gewicht beigemessen werden: abgestimmte Bemühungen, regionale und internationale Akteure in einer Krise frühzeitig zusammenzubringen, um ihre Interessen zu besprechen, einen gemeinsamen Lösungsansatz zu finden oder zumindest den Ausbruch weiterer Gewalt zu verhindern. Derartige Versuche sind weder leicht zu bewerkstelligen noch zwangsläufig erfolgreich – wie an den Versuchen der USA deutlich wird, die Unstimmigkeiten zwischen Russland, Iran und Saudi-Arabien in der Syrien-Krise durch unterschiedliche diplomatische Formate aus dem Weg zu räumen. Allerdings sind sie nicht selten die einzige Chance, einen Krieg noch einzudämmen, bevor vollends jegliche Kontrolle verloren geht.

Effektive Früherkennung bedarf also eines vielschichtigen politischen Engagements, das Bemühungen be­inhaltet, sowohl mit politischen und militärischen Akteuren im Zentrum einer Krise zu verhandeln als auch gegebenenfalls mit zwielichtigen Personen und Machthabern in peripheren Regionen zu kommunizieren. Erschwert wird dieses Vorgehen insbesondere dann, wenn eine Krise in einem Land ausbricht – wie in der Zentralafrikanischen Republik oder im Jemen – in dem nur wenige Außenstehende über die nötige Expertise oder den erforderlichen Einfluss verfügen. Selbst wenn politisches Engagement Wirkung zeigen sollte und es möglich scheint, politische Führer und Rebellengruppen von Gewaltanwendung abzubringen, müssen außenstehende Mächte dazu bereit sein, durch weitere Maßnahmen, von Entwicklungshilfe bis zum Einsatz von Peacekeeping-Truppen, den Frieden zu bewahren.

Tatsache ist, dass solche Maßnahmen nur erfolgreich sein können, wenn Diplomaten und internationale Funktionäre genügend Analyse vor Ort betrieben und politische Kontakte im Vorfeld der Krise hergestellt haben. In einigen Fällen mögen führende Politiker wie Bundeskanzlerin Merkel oder Außenminister Kerry einschreiten; doch meistens wird es bei den Diplomaten liegen, die entsprechenden Schritte in die Wege zu leiten. So fordert der Politikwissenschaftler Gerrit Kurtz, dass die politische Führungselite eine Organisationskultur schaffen müsse, die Diplomaten vor Ort mehr Autonomie gewähre und sie außerdem in relevanten Fähigkeiten wie Konfliktanalyse und -vermittlung schule.

Das Auswärtige Amt hat jüngst einen ersten Schritt in diese Richtung getan, indem es eine eigene Abteilung für Krisenprävention, Stabilisierung und Konfliktnachsorge geschaffen hat. Auch die neue Globalstrategie der EU betont die Notwendigkeit eines ausgeprägten Verständnisses für krisengefährdete Länder und ruft die Mitgliedstaaten dazu auf, vermehrt in die politische Ausstattung von EU-Delegationen zu investieren, damit sie auf den Ausbruch von Krisen besser vorbereitet sind.

Außenministerien und multilaterale Organisationen sind mit derartigen Maßnahmen nicht immer einverstanden, und es ist nicht von der Hand zu weisen, dass sie durchaus Risiken bergen. Man kann leicht fordern, dass Diplomaten mehr Zeit in abgelegenen Peripherien schwacher Staaten verbringen sollen; doch käme es zu einem Todesfall, wären die politischen Kosten enorm hoch. Ebenso klingt es zwar in der Theorie einleuchtend, Beziehungen mit politischen und militärischen Führungskräften zu etablieren, doch erregen diese oftmals Misstrauen. Infolge des Putschversuchs in der Türkei warteten türkische Regierungsbeamte und Politiker nicht lange damit, die USA unsauberer Beziehungen zu den Verschwörern zu bezichtigen.

Allerdings sind letztendlich die Risiken, sich nicht in zerfallenden Staaten zu engagieren, stets höher als jene, genau dies zu tun. Gerade in Zeiten zahlreicher eskalierender Konflikte müssen die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten in frühe und komplexe präventive ­Diplomatie investieren, um zu verhindern, dass künftige Konflikte die Nachbarschaft Europas noch weiter im Chaos versinken lassen.

Richard Gowan ist Fellow des European Council on Foreign ­Relations. Er trug maßgeblich zum Bericht der International Crisis Group „Seizing the Moment: From Early Warning to Early Action“ bei.

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 6, November/Dezember 2016, S. 46-51

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