Buchkritik

01. Juli 2015

Pazifisch planen

Wie wir von der multipolaren Weltordnung profitieren können

Dass die neue globale Architektur nicht allein westlich dominiert sein wird, ist weltgeschichtlich nichts Neues. Sie mag sogar noch unorganisierter werden als die gegenwärtige. Wenn Europa aber klug ist, wird es seinen Nutzen aus der neuen Ordnung ziehen können. Vier Neuerscheinungen zeigen, wie.

China verstehen? Seit Jahren versuchen Sinologen aus Europa und Amerika, ihren Landsleuten den für sie sehr fernen Osten zu beschreiben und zu erklären. Aber das Wesen der chinesischen Gesellschaft, des Staates und seiner Partei zu durchdringen, gelingt selten, meist nur für Momente oder einzelne Aspekte. Wenn schon nicht wirklich verstehen, so doch wenigstens nachfühlen, dürfte sich Marcus Hernig gedacht haben. Hernig war mehrfach im Auftrag des Goethe-Instituts in Ostasien, zuletzt als Leiter der Dependance in Kyoto, Japan; er lehrt an chinesischen Hochschulen in Hangzhou und Schanghai und ist als Berater für Unternehmen in Fragen chinesischer Kultur und Kommunikation tätig.

Es ist mittlerweile 13 Jahre her, dass Hernig zum ersten Mal nach China kam. Inzwischen habe er vergessen, was er damals gedacht habe, schreibt er. Aber er wisse noch sehr genau, wie sich Nanjing angefühlt habe, die Stadt, in der er dann mehrere Jahre studierte: warm, pulsierend, aufregend. Daran anknüpfend, widmet sich Hernig dem chinesischen Gefühlshaushalt. So sei in dem von einem Schüler des Konfuzius verfassten „Buch der Riten“ die „Freude“ an den Anfang einer Klassifizierung der menschlichen Gefühle gestellt worden, der sechs weitere Dimensionen folgen: Wut, Trauer, Angst, Liebe, Hass und Gier.

Aufholen und nachholen

Diese sieben Gefühlsdimensionen entsprechen in etwa den Grundgefühlen in der westlichen Psychologie – Begehren, Angst, Aggression sowie Schmerz, Trauer und Freude. Doch ist die Reihenfolge eine andere. Hernig führt das auf die positive Einstellung der Chinesen zum „Hier und Jetzt“ zurück, wodurch die Freude an den Anfang aller Gefühle rückt. Zugleich schließe das Begehren in China immer auch das Streben nach materiellen oder ideellen Zielen ein, etwa nach Reichtum, Karriere und Erfolg – bis heute spielt der Aufstieg eine große Rolle in der hierarchisch strukturierten Gesellschaft Chinas.

Zudem hafte dem chinesischen Begriff für Begehren („yu“) nicht der Beigeschmack der Sucht an, die Christentum oder Hinduismus damit verbänden. Auch in den von Hernig beschriebenen Begegnungen mit Bauern und Geschäftsleuten, Vermietern und Nachbarn, Politikern und Studenten wird immer wieder deutlich, wie wenig man dort auf Enthaltsamkeit oder weltabgewandte Askese gibt.

Das könnte – wie oft bei aufsteigenden Gesellschaften – auch an dem Gefühl liegen, etwas nach- oder aufholen zu müssen. Hernig zitiert den 1960 geborenen Schriftsteller Yu Hua, den nach eigener Aussage das Gefühl des Schmerzes, den sein Volk in der Vergangenheit erlitten habe, zum ­Schreiben treibe: Schmerz aufgrund schlechter medizinischer Versorgung, aufgrund politischer Kampagnen oder aufgrund einer wirtschaftlichen Modernisierung im Hauruckverfahren. Neben dem Schmerz trifft Hernig auf Angst und Unsicherheit, bisweilen auch auf Gleichgültigkeit oder Gefühllosigkeit.

Alles gut in Afrika – dank China?

Einen Partner, der einen ähnlichen Nachholbedarf hat, scheint China in Afrika gefunden zu haben. Eine Partnerschaft, die nicht auf Augenhöhe besteht, aus der aber auch nicht nur Peking seine Vorteile zieht. Während im Westen die öffentliche Wahrnehmung des afrikanischen Kontinents immer noch von den Bildern überfüllter Flüchtlingsboote geprägt ist, von Ebola, Bürgerkriegen und korrupten Regimen, übersieht man oft den zumindest in einigen Ländern und Regionen des Kontinents stattfindenden Wirtschaftsboom.

Das zu ändern haben sich die Brüder Andreas und Frank Sieren vorgenommen. Andreas Sieren lebt seit nunmehr 15 Jahren in Afrika, erst in Botswana, dann in Südafrika. Zunächst war er für die Vereinten Na­tionen tätig, nun arbeitet er als Wissenschaftler für die Oxford Business Group sowie als Journalist, unter ­anderem für die Wirtschaftswoche, die südafrikanische Sunday Times, die singapurische Straits Times und den indischen Business Standard. Sein Bruder Frank, seit mehr als 20 Jahren in China lebend, hat sich bereits in mehreren Bestsellern mit seiner Wahlheimat und der globalen Rolle Pekings beschäftigt. Dabei hat er sich auch Afrika gewidmet – zuletzt ein Hauptschauplatz chinesischen Engagements.

Bereits im Klappentext machen die Autoren deutlich: „Zehn Jahre chinesischer, indischer und brasilianischer Investitionen haben dem Kontinent mehr geholfen als 50 Jahre westlicher Entwicklungshilfe.“ Deshalb wachse Subsahara-Afrika seit einem Jahrzehnt mit über 5 Prozent. Der Rohstoffboom habe Afrika „abheben“ lassen. Und in der Tat: Dort liegen gegenwärtig sechs der zehn wachstumsstärksten Länder der Welt. Es ist ein demografisch junger Kon­tinent. Die Kindersterblichkeit ist massiv gesunken – um 50 Prozent. Das Ausbildungsniveau steigt. Die Mittelschicht wächst, sie wird auf allmählich 300 Millionen Menschen geschätzt.

Also alles gut in Afrika – auch dank chinesischer Hilfe? Nein. Zwar zeigen sich die Autoren begeistert von der jüngeren Entwicklung, naiv sind sie aber nicht: Wohl seien chinesische Investitionen grundsätzlich in Afrika willkommen. Aber es gebe auch immer wieder „schwarze Schafe“ – Unternehmen und Unternehmer, die sich nicht an die Regeln halten und die Afrikaner über den Tisch ziehen. Proteste gegen die wachsende Präsenz chinesischer Arbeitskräfte und Demonstrationen für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn in chinesischen Unternehmen vor Ort sind die Folge.

Damit der gegenwärtige Afrika-Boom anhalte, müssten den Autoren zufolge vor allem drei Faktoren stimmen: Die Afrikaner müssten genügend Arbeitsplätze, Stromkraftwerke und weitere Infrastruktur schaffen. Sollte ihnen das gelingen, dann werde Afrika in den kommenden beiden Jahrzehnten Asien als Fabrik der Welt ablösen – so wie in den Jahrhunderten zuvor Amerika Europa abgelöst habe und wiederum von Asien abgelöst worden sei. Wem diese Prognose allzu kühn erscheint, dem geben die Brüder Sieren am Ende ihrer faktengesättigten und zugleich sehr pointierten Analyse der Süd-Süd-Kooperation zwischen China und Afrika mit auf den Weg: „Jedes Mal konnten sich die Etablierten nicht vorstellen, dass die Aufsteiger dies schaffen würden. Und jedes Mal wurde es die große Überraschung eines Jahrhunderts.“

Für den Westen nichts Neues

Dass der Westen gefordert ist, sich mit einer neuen, nicht mehr allein westlich dominierten, sondern multipolar geprägten Weltordnung zu beschäftigen, ist nicht nur nichts Neues – es ist auch weltgeschichtlich betrachtet kein Novum. Dem eurozentrischen Blick ist es nur allzu lange entgangen. Eine Ausnahme bildet hier Thomas Seifert. Der stellvertretende Chefredakteur und Leiter der Außenpolitik bei der Wiener Zeitung hat in seiner journalistischen Laufbahn beinahe aus der ganzen Welt berichtet: aus Afghanistan, dem Iran, den Vereinigten Arabischen Emiraten, aus Ghana, dem Irak, Russland, Saudi-Arabien, Indien und China. Das hat seinen Blick geschärft – sei es für die Vergangenheit, für die Gegenwart oder die Zukunft.

Seiferts große Stärke ist die Verbindung von politischer und wirtschaftlicher Analyse langer Zeiträume. Dadurch vermeidet er die Kurzatmigkeit seiner eigenen Branche. Seine Darstellung kommt nicht im Stil von noch einmal erzählten „Breaking News“ daher, folgt keinem Medien-hype und verzichtet auf die ganz steile These. Stattdessen zeichnet er nüchtern, aber dadurch umso einprägsamer die großen Linien nach, die von einer Epoche in die nächste führten.

Zugleich betont er die Chancen, die mit der Herausbildung einer neuen Weltordnung verknüpft sind. So dürfte die amerikanische Westküste – bereits heute der Motor wirtschaftlicher Dynamik und Innovation in den Vereinigten Staaten – in der beginnenden pazifischen Epoche noch weiter an Bedeutung gewinnen. Doch ebenso könnten nach Seiferts Einschätzung der Südosten und Osten Europas eines Tages von der Landverbindung nach China profitieren; auch logistische Knotenpunkte seien dort denkbar.

Seifert empfiehlt der Europäischen Union aus gutem Grund eine eigenständige Asien-Politik: Haben Amerikaner und Europäer dort doch ihre jeweils ganz eigenen Wirtschaftsinteressen. So könnten Deutschland, die Niederlande, Spanien und Italien gegenüber China eine positive Leistungsbilanz vorweisen, während die USA hier ein Defizit von beinahe 100 Milliarden Dollar verzeichneten. Beiden – Europäern wie Amerikanern – rät Seifert außerdem dringend, die Reformen an einem multilateralen System mit Hochdruck voranzutreiben, solange sie dafür noch über ausreichend globalen Einfluss verfügten.

Nüchtern fällt ebenfalls Seiferts Einordnung des Aufstiegs Chinas aus: Auch wenn das Land nun die Nummer eins beim Bruttoinlandsprodukt sei, müsse dieser Erfolg nicht zwangsläufig zulasten Europas oder der USA gehen. In der Tat haben die Europäer bereits bewiesen, dass sie Exportchancen nach Asien zu nutzen verstehen. Über ihre klassischen Produkte hinaus haben sie Lösungen für Umwelt- und Verkehrsprobleme sowie den Aufbau sozialer Sicherungssysteme anzubieten. Kein anderer Wirtschaftspartner – mit Ausnahme Japans – verfügt über dieses Know-how.

Comeback des Irrationalen

Welche Art von Weltordnung wird daraus entstehen? Welche Eigenschaften, welchen Charakter wird sie haben? Maximilian Terhalle beschäftigt sich intensiv mit Theorien globaler Ordnung sowie den Beziehungen zwischen China und den USA. Nach Stationen an den Universitäten Columbia, Oxford, Cornell und Yale vertritt er derzeit die Professur für Internationale Politik an der Fernuniver-sität Hagen. Realistisch skizziert er die Grundzüge der globalen Architektur, die bereits heute sichtbar wird: Die revisionistischen Ambitionen nicht allein Chinas, sondern auch der USA verstärkten die vielfältigen Widerstände, die wirkliche Global Governance bislang verhinderten.

Die Vorstellung, diese beiden Mächte könnten als eine Art G-2 der Welt eine neue Ordnung geben, erscheint in diesem Licht unrealistisch. Terhalle führt das auf elementare Unterschiede in den philosophischen, strukturellen und sozialen Grundlagen der beiden Großmächte zurück, die sich auch in unterschiedlichen Vorstellungen globaler Governance spiegelten und Kooperationen schwierig machten. Für Terhalle folgt daraus eine zukünftige Weltordnung, die noch unorganisierter sein dürfte als die heutige und dadurch noch gefährlicher – eine Einschätzung, die mehr als ein Gefühl sein dürfte, gerade weil das Handeln der Protagonisten in dieser Ordnung oder Unordnung in hohem Maße auf nationalen Gefühlen fußt. Das Irrationale feiert ein globales Comeback. Es auf rationale Weise erklären zu können, ist Terhalles Verdienst.

Dr. Thomas Speckmann, Ministerialrat, Leiter des Referats Reden und Texte, Stab Strategie und Kommunikation, Bundesministerium der Finanzen. Der Beitrag gibt seine persönliche Meinung wieder.

Marcus Hernig: Chinas Bauch. Warum der Westen weniger denken muss, um den Osten besser zu verstehen. Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2015. 227 Seiten, 19,00 €
Andreas Sieren und Frank Sieren: Der Afrika-Boom. Die gro§e Überraschung des 21. Jahrhunderts. München: Carl Hanser Verlag 2015. 300 Seiten, 21,90 €
Thomas Seifert: Die pazifische Epoche. Wie Europa gegen die neue Weltmacht Asien bestehen kann. Wien: Deuticke im Paul Zsolnay Verlag 2015. 303 Seiten, 21,90 €
Maximilian Terhalle: The Transition of Global Order. Legitimacy and Contestation. Palgrave Macmillan 2015. 267 Seiten, 65,00 £

 

Bibliografische Angaben

Internationale Politik 4, Juli/August 2015, S. 134-137

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