NATO: Smart aus der Krise

Beim Gipfel in Chicago hat sich das Verteidigungsbündnis seiner Zukunft versichert

„Smart Defense“ heißt der neue Ansatz der NATO. Damit will das Bündnis seine militärischen Fähigkeiten stärken – mit denen es nicht zum Besten bestellt ist: Die Lasten zwischen den USA und Europa sind ungleich verteilt, und infolge der Schuldenkrise sinken die Verteidigungsausgaben. Zustand und Zukunft der NATO sind auch ein Themenschwerpunkt bei der DGAP.

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Fähigkeitslücken, verschärft durch die Schuldenkrise – und das bei einer Vielzahl neuer Aufgaben: Wie das größte Verteidigungsbündnis der Welt unter diesen Umständen handlungsfähig bleiben will, stand auf der Gipfelagenda am 20. und 21. Mai ganz oben.

Rückzug aus Afghanistan

Eine erste Bewertung des NATO-Gipfels beim Early Bird Breakfast in der DGAP am 22. Mai fiel gemischt aus. Zu den wichtigsten Themen der Chicagoer Konferenz zählte der Afghanistan-Einsatz. 2014 soll die ISAF-Mission abgeschlossen sein. Dieses Datum wurde in Chicago noch einmal bestätigt.

Allerdings möchte die neue französische Führung bereits 2012 einen Großteil ihrer Soldaten abziehen. Das könnte auch Auswirkungen auf das Engagement der anderen beteiligten Länder haben, gab Henning Riecke, Leiter des USA-Programms, zu bedenken. "Auch nach 2014 wird es erhebliche Spannungen in Afghanistan geben. Welche Aufgaben die danach verbleibenden westlichen Soldaten erfüllen müssen - Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte oder auch Auftsandsbekämpfung - ist noch nicht sicher. "

Schrumpfende Budgets als größte Bedrohung

Josef Braml, Chefredakteur des DGAP-Jahrbuchs, wies darauf hin, dass die Bewältigung der Schulden- und Wirtschaftskrise heute zu den drängendsten Aufgaben zählt. Schrumpfende Budgets beeinträchtigen die Handlungsfähigkeit der NATO-Länder. Diesem Thema sei beim Gipfel auch ein entsprechender Stellenwert eingeräumt worden. Dagegen habe man viel zu wenig darüber gesprochen, welche Folgen der Aufstieg Chinas für die internationale Sicherheitspolitik hat. Dabei entsehe in Südostasien gerade eine neue Bedrohungslage.

Dass die Wirtschaftskrise die derzeit größte sicherheitspolitische Bedrohung darstellt, unterstrich Constanze Stelzenmüller, Senior Transatlantic Fellow beim German Marshall Fund. Das gilt auch für Europa. So ziehen die Vereinigten Staaten aufgrund schwindender finanzieller Ressourcen nach und nach den Großteil ihrer Truppen aus Europa ab. Entsprechend müsse die Eigenverantwortung der Europäer für ihren Kontinent wachsen. „Die EU muss ihre Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik radikal neu denken.“

Europa muss mehr Verantwortung übernehmen

Nur durch eine gemeinsame Anstrengung aller Mitgliedstaaten, vor allem ihre effektivere Abstimmung, könne die NATO ihre Aufgaben auch künftig erfüllen, sagte der britische Verteidigungsminister Philip Hammond bei einer Veranstaltung der DGAP und der Britischen Botschaft am 2. Mai 2012 in Berlin. Besonders das wirtschaftlich starke Deutschland könne eine Führungsrolle spielen.

Er unterstrich dabei die Bedeutung des „pooling and sharing“. Vor allem in den Bereichen Technologie, Logistik und Ausbildung gelte es, die Fähigkeiten der Partner zusammenzulegen. Die Mitgliedsländer wollten und könnten nicht mehr für sämtliche Aufgaben eigene Kapazitäten stellen.

Hammond sprach auch die Ungleichgewichte in der Allianz an. So sei der Libyen-Einsatz nur mit Unterstützung der USA möglich gewesen. Washington konzentriere sich aber zunehmend auf den pazifischen Raum. Das liege durchaus im Interesse Europas. Im Gegenzug müssten die europäischen Länder aber mehr Verantwortung in der eigenen Nachbarschaft übernehmen.

Verliert die NATO an Bedeutung, weil sich die amerikanische Sicherheitspolitik stärker auf die Region Asien-Pazifik ausrichtet? Rainer Stinner, MdB, Hans-Dieter Lucas, Politischer Direktor des Auswärtigen Amtes, Leo Michel vom NATO Defense College und Forschungsdirektor Eberhard Sandschneider debattierten diese Sorge in einer Sitzung der DGAP-Studiengruppe für Strategische Fragen am 7. Mai unter dem Titel „The USA as a Pacific Power“. Die US-Regierung ist zu umfassenden Kürzungen der Verteidigungsausgaben gezwungen, hat aber angekündigt, dass das Engagement im Pazifik davon nicht betroffen sein werde und dass die wichtigsten Verbündeten nach wie vor die Europäer seien.

Amerika steht zum Bündnis

Ist in Zeiten schrumpfender Verteidigungsetats die europäische Sicherheit oder gar das transatlantische Bündnis in Gefahr? Auch die Studiengruppe für Strategische Fragen am 23. April befasste sich mit der Handlungsfähigkeit einer "schlanken" NATO unter Budgetdruck.

Dirk Brengelmann, beigeordneter Generalsekretär der NATO, Karl Heinz Kamp, Forschungsdirektor des NATO Defense College und Hans-Ulrich Klose, MdB, stellvertretender Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses, nahmen sich einzelne Aspekte des Themas vor.

Defizite bei den militärischen Fähigkeiten und mangelndes Engagement der Europäer belasten die Allianz schon lange. Wie weit reicht die Geduld der USA? – Die Amerikaner hätten weiterhin Interesse an der NATO, doch wachse der Druck auf Europa, sich stärkere militärische Fähigkeiten zuzulegen, sagte Dirk Brengelmann nach der Sitzung im DGAP-Interview.

Smart Defense

„Ein Hauptthema der NATO, auch bei den derzeitigen Gipfelvorbereitungen, ist „Smart Defense“, das dazu dienen soll, die Kräfte der Mitgliedstaaten besser aufeinander abzustimmen. Da sind wir auf einem guten Weg.“ Die Staatsschuldenkrise werde die Zusammenarbeit auch bei Rüstungsvorhaben voranbringen, so Brengelmann.

Zum Thema “Smart Defense and the Future of NATO” veranstaltete das Programm USA/Transatlantische Beziehungen der DGAP in Kooperation mit dem Chicago Council on Global Affairs und weiteren Partnern vom 28. bis 30. März 2012 eine hochrangige Konferenz.

Henning Riecke, Leiter des USA-Programms, weist in seinem Konferenzpaper – „Focused Engagement: NATO's Political Ambitions in a Changing Strategic Context“ – auf das strategische Dilemma der NATO hin: Während sich das Bündnis eigentlich auf wenige Prioritäten konzentrieren müsse, um schlagkräftiger zu werden, erforderten die immer vielfältigeren Herausforderungen eine breitere Aufstellung. Die NATO solle daher den Radius ihrer Einsätze auf die angrenzenden Regionen beschränken.

Dass den wirtschaftlich angeschlagenen USA als Führungsmacht in der NATO auch militärisch die Puste ausgehen könnte, davor warnt Josef Braml, Redaktionsleiter des DGAP-Jahrbuchs, in seinem Beitrag „NATO’s Inward Outlook: Global Burden Sharing“ und unterstreicht die Notwendigkeit einer ausgewogeneren Lastenteilung unter den Verbündeten.

Raketenabwehr

Trotz rückläufiger Budgets: Die NATO verfolgt ehrgeizige Projekte: Der Schutz des Bündnisgebiets gegen ballistische Raketen gehört derzeit zu den wichtigsten Themen auf der NATO-Agenda. Darum ging es bei einer Sitzung der Veranstaltungsreihe „Atlantisches Abendbrot“ des Berliner Forum Zukunft (BFZ) am 23. April.

Thomas Hambach, Leiter des NATO-Referats im Bundesministerium der Verteidigung führte in den Stand der Raketenabwehrplanungen ein. Beim Gipfel in Lissabon 2010 war der Entschluss zu einer territorialen Raketenabwehr gefallen. In Chicago wird das Bündnis voraussichtlich die „Anfangsbefähigung“ verkünden – ein wichtiger Schritt zur Stärkung der NATO, sagte Hambach auch im DGAP-Interview. Dennoch ist die Zukunft des Abwehrsystems alles andere als klar.

Kaum ein anderes Thema ist in den vergangenen Jahren so kontrovers diskutiert worden – nicht nur zwischen der NATO und Russland, sondern auch unter den NATO-Partnern selbst. Fragen wie das Schutzniveau für das NATO-Territorium, die europäischen Beiträge zum System oder die Möglichkeiten, Russland in die Abwehrarchitektur einzubinden, sind weiterhin unklar. „Es kommt nun auf darauf an, ob es gelingt, die Entscheidung auch umzusetzen – und zwar gemeinsam,“ sagte Svenja Sinjen, Leiterin des Berliner Forum Zukunft.

Weitere Veranstaltungen zum Thema in der DGAP

31. Mai 2012, 8:30 - 10 Uhr
„After the Chicago Summit–Prospects for Afghanistan and the Region“
Diskussionsveranstaltung des Programms USA/Transatlantische Beziehungen mit dem britischen Sonderbeauftragten Mark Sedwill

14. Juni 2012, 13 - 14:30 Uhr
„Die Neuausrichtung der Bundeswehr – Eine Antwort auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit“
Rede des Bundesverteidigungsministers Thomas de Maizère

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