Kommentar

26. Okt. 2022

Stunde der Wahrheit

Die deutsch-französische Kooperation braucht dringend Erfolgsmeldungen
Bundeskanzler Scholz und Frankreichs Präsident in Prag Anfang Oktober

Russlands Krieg gegen die Ukraine verschiebt die Aufmerksamkeit Europas Richtung Osten. Dass nun der Deutsch-Französische Ministerrat abgesagt wurde, nährt die Zweifel an der Fähigkeit beider Länder, Antworten auf die aktuellen Krisen zu geben – und ihrer Führungsrolle gerecht zu werden.

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Trotz Warnungen aus den USA wurden die Regierenden in Berlin und Paris am 24. Februar vom russischen Angriff auf die Ukraine überrascht. Beide Seiten mussten sich das Scheitern der eigenen diplomatischen Bemühungen eingestehen. Schnell wurde klar, dass die Streitkräfte beider Länder einem ähnlichen Angriff kaum etwas entgegenzusetzen hätten.

Auf den ersten Blick war die erneute russische Invasion der Ukraine für Deutschland und Frankreich also ein symmetrischer Schock. Seitdem sind die politischen Verantwortlichen in Berlin und Paris mit den Folgen des Krieges beschäftigt, die Energie- und Sicherheitspolitik stehen im Zentrum. Deutschland versucht sich nach 2014 zum zweiten Mal an der Neuausrichtung seiner Außen- und Sicherheitspolitik, diesmal unter dem Schlagwort „Zeitenwende“. Und auch die französische Regierung ordnet nach außenpolitischen Rückschlägen im Indopazifik und Westafrika ihre Prioritäten neu. Künftig soll die Landes- und Bündnisverteidigung in beiden Ländern wieder an erster Stelle stehen.

Die deutsch-französische Geschlossenheit zeigt Risse

Doch auf den zweiten Blick zeigen sich Risse in der demonstrativen Geschlossenheit Deutschlands und Frankreichs. Neben der Energiepolitik haben auch die großen Differenzen in der Sicherheitspolitik nun zur Absage des alljährlich tagenden Ministerrats geführt. Ein anschauliches Beispiel für die Gründe ist das deutsche Sondervermögen. Die Ankündigung des Bundeskanzlers, für Verteidigungsausgaben 100 Milliarden Euro zusätzlich bereitzustellen, wurde in Paris zunächst begrüßt. Präsident Emmanuel Macron drängt seit 2017 auf mehr deutsche Investitionen in die europäische Sicherheit.

Doch die deutschen Kaufentscheidungen haben in Frankreich seitdem für Ernüchterung gesorgt. Dass amerikanische F-35-Kampfflugzeuge nur im Rahmen der nuklearen Teilhabe eingesetzt werden sollen und das deutsch-französische Konkurrenzprojekt Future Combat Air System (FCAS) nicht betreffen, glauben viele in Frankreich nicht. Und dass die Bundesregierung zuletzt ohne französische Beteiligung, im Verbund mit 14 vor allem osteuropäischen Partnern einen auf israelischer und US-amerikanischer Technologie basierenden Raketen-Abwehrschirm für Europa ankündigt hat, war der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte.

Dahinter steckt nicht nur kurzfristige Enttäuschung, obwohl es auch die gibt: Darüber, dass die eigene Industrie bisher leer ausgeht und Kooperationsprojekte mit Deutschland, FCAS ist nur eines von vielen, nicht vorankommen. Schwerer wiegt aber, dass sich im französischen Parlament und bei Teilen der Regierung der Eindruck verfestigt, dass die Bundesregierung von der im Koalitionsvertrag vereinbarten Verpflichtung zur „strategische Souveränität“ der EU abrückt. Spätestens seit der Kanzlerrede in Prag, die kaum ein Wort für die deutsch-französische Partnerschaft übrighatte, droht die sogenannte Zeitenwende aus französischer Sicht zum Rückfall zu werden.

Frankreichs proeuropäischer Präsident hat Zweifel

Die Zweifel aus Frankreich an Deutschlands Bereitschaft, die EU souveräner zu machen, sind nicht neu. Seit Jahren halten Macrons Vorschläge rund um die strategische Autonomie Europas Deutschland und andere Partner dies- und jenseits des Atlantiks in Atem. Seine Ideen wurden in den vergangenen Jahren aber geduldet, auch, weil mit Macron der proeuropäischste Präsident seit Jahren Frankreich führt. Gleichzeitig hatte der Präsident im eigenen Land lange nichts zu befürchten, konnte sich auf eine komfortable Mehrheit im Parlament stützen. Angriffe auf seine proeuropäischen Initiativen und auf deutsch-französische Projekte tat er als Minderheitenmeinungen der politischen Extreme ab.

Diese Meinungen sind aber aus den Wahlen in der ersten Jahreshälfte gestärkt hervorgegangen. Das macht sich auch in der Sicherheitspolitik bemerkbar, die in der fünften Französischen Republik traditionell vom Präsidenten dominiert wird. Seit September haben das Parlament und die politische Opposition deutlich mehr Gewicht.

Die Zeiten, als der Verteidigungsausschuss der Nationalversammlung die Positionen der Regierung kritiklos übernahm, sind vorbei. Die Opposition will bei wichtigen Entscheidungen mitreden – das berichten Insider von den beginnenden Verhandlungen zur mehrjährigen militärischen Finanzplanung – oft zu Ungunsten Deutschlands. Marine Le Pens Rassemblement National soll zum Beispiel einen Änderungsantrag eingebracht haben, der die vollständige Streichung der französischen Mittel für FCAS zur Folge hätte. Und weil die Regierung in den vergangenen Wochen mehrere Abstimmungen verloren hat und die Opposition von links bis rechts im Zweifel gemeinsam gegen Macron stimmt, ist nichts ausgeschlossen.

Emmanuel Macron braucht dringend Erfolgsmeldungen

Macron braucht Erfolgsmeldungen, das sollte der Bundesregierung auch mit Blick auf die Verschiebung des Ministerrats bewusst sein. Dass die französische Seite auf eine ambitionierte Abschlusserklärung drängte, kann nicht überraschen. Angesichts wachsender Vorbehalte gegenüber Deutschland sprachen selbst Vertreter der Regierungsmehrheit vor dem Gipfel von einer „Stunde der Wahrheit“. Mit Blick auf FCAS wurde ein Machtwort von Macron und Scholz erwartet, um Druck auf die zerstrittene Industrie auszuüben und kurzfristig Fortschritte in der aktuellen Projektphase anzustoßen. Die Absage ist jetzt Munition für alle jene in Paris, die die Kooperationsprojekte lieber heute als morgen beenden würden und „europäische Souveränität“ als illusorische Abweichung von der gaullistischen Linie empfinden.

Dabei hat die EU deutsch-französische Führung heute nötiger denn je. Und über FCAS hinaus gäbe es viel Raum für Verbesserungen. Die Bundesregierung arbeitet an der ersten deutschen Nationalen Sicherheitsstrategie, in Frankreich beginnen die Verhandlungen zur mehrjährigen militärischen Finanzplanung. Der Deutsch-Französische Sicherheits- und Verteidigungsrat und die gemeinsame Parlamentarische Versammlung, die im November tagt, könnten den regelmäßigen Austausch zu diesen Prozessen fördern. Im Vorlauf des Gipfels wurde die Einbindung der deutsch-französischen Brigade in Großübungen an der NATO-Ostflanke diskutiert. Das wäre nicht nur ein deutliches Signal an die enttäuschten osteuropäischen Partner, sondern auch die Möglichkeit, im Einsatz endlich einer gemeinsamen strategischen Kultur näher zu kommen.

Geschieht nichts dergleichen, werden in beiden Ländern und auch im Rest der EU die Stimmen lauter werden, die das deutsch-französische Duo für überholt halten. Und so könnten Kritiker den im vergangenen Jahr verstorbenen, früheren Verteidigungsminister Donald Rumsfeld bestätigt sehen, der nach dem deutsch-französischen „Nein“ zur US-Invasion des Iraks vor 20 Jahren das Ende des „alten“, deutsch-französischen Europas voraussagte.

Bibliografische Angaben

Ross, Jacob, and Kenny Kremer . “Stunde der Wahrheit.” October 2022.

Dieser Online-Kommentar wurde am 26. Oktober 2022 publiziert. 

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