Kommentar

30. Nov. 2011

Putin 3.0

Russland zwischen Restauration und Modernisierung

Bei den Präsidentschaftswahlen 2012 will Wladimir Putin für eine dritte Amtszeit kandidieren. Sein Erfolg gilt als sicher, trotz der Stimmenverluste bei den Duma-Wahlen. Die Ansprüche der wachsenden Mittelschicht an die Kreml-Politik sind gestiegen, ein rein autoritärer Kurs wäre zum Scheitern verurteilt. Russland-Experte Alexander Rahr macht zwei Szenarien auf und meint: Putin wird es mit einer Mischung aus Kontinuität und Modernisierung versuchen.

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Die Prognosen für die Parlamentswahlen Anfang Dezember 2011 verhießen wenig Überraschendes. Die Kremlpartei „Einheitliches Russland“ würde voraussichtlich klar gewinnen, wenn auch nicht in der Höhe wie beim vorigen Urnengang. Die Opposition in der kommenden Duma werden nicht etwa die liberalen Parteien stellen, deren Spitzenpolitiker von den Wahlen ausgeschlossen wurden, sondern die Kommunisten. Eine solche Machtverteilung entspricht der politischen Stimmung im Land. Nationalisten und Sowjetnostalgiker haben dreimal so viel Zulauf wie die untereinander zerstrittenen liberalen Kräfte. Für die Präsidentschaftswahlen ergibt sich ein ebenso einseitiges Bild: Zu Wladimir Putin ist keine echte Alternative in Sicht. Alles andere als ein klarer Sieg in der ersten Wahlrunde wäre eine Sensation.

Stärkung des Staates oder Reformkurs?

Über Putins künftigen politischen Kurs herrscht bislang Unklarheit. Zwei Szenarien erscheinen denkbar:

Anknüpfend an seine zweite Amtszeit könnte der kommende Präsident den Weg einer „autoritären Modernisierung“, also einer weiteren Stärkung des Staates und der Geheimdienste, beschreiten. Pessimisten warnen gar, es gehe ihm nur um seinen persönlichen Machterhalt. In diesem Szenario würde das staatskapitalistische Wirtschaftssystem ausgebaut – was allerdings Investoren verunsichert. Zudem würde man dadurch den Beitritt zur Welthandelsorganisation gefährden. Der Regierung Medwedew käme die undankbare Rolle zu, unpopuläre soziale Einschnitte durchzuführen.

Außenpolitisch könnte Putin auf Konfrontationskurs mit dem Westen gehen, sich mit Washington wegen der Raketenabwehr endgültig überwerfen, in einen teuren Rüstungswettlauf eintreten, gemeinsam mit China westliche Sanktionsregime unterminieren und die Rivalität um die Kontrolle im postsowjetischen Raum, vor allem in der Ukraine und Zentralasien, verschärfen. Mit der Europäischen Union birgt vor allem die Schaffung eines gemeinsamen europäischen Gasmarktes Konflikte.

Optimisten hoffen auf ein anderes Szenario: Der neue Putin wird demnach kein engstirniger Restaurator, sondern ein Modernisierer, der demokratische Gouverneurs- und Föderationsratswahlen wieder einführt, liberal gesinnte Minister akzeptiert und Geheimdienstler von der Macht fernhält. Dimitrij Medwedew würde als Premier mit der Modernisierung der Wirtschaft beauftragt. Der Westen und die ausländischen Investoren wüssten das zu schätzen. Insgesamt würde das internationale Konfliktpotenzial schwinden, Russland eine Freihandelszone mit der EU aushandeln und in Fragen der Sanktionen gegen Iran und Syrien an der Seite des Westens stehen.

Schließlich, so wird argumentiert, führte Putin in seiner ersten Amtszeit 2000 bis 2004 die liberalsten Wirtschaftsreformen der jüngeren russischen Geschichte durch, gab dem Land eine Sozialgesetzgebung, half durch diese Politik entscheidend, den Lebensstandard der Bevölkerung um ein Vielfaches zu heben und ging eine strategische Partnerschaft mit dem Westen ein.

Wachsende Mittelschicht

Ein Blick auf die Entwicklung der russischen Gesellschaftsstruktur kann Antwort auf die Frage geben, welchen Kurs ein erneuter Präsident Putin einschlagen wird. In den vergangenen Jahren hat sich in Russland ein moderner Mittelstand entwickelt, der heute bereits 25 bis 30 Prozent der Bevölkerung ausmacht und sich bald kaum noch vom westeuropäischen Bürgertum unterscheidet. Diese neue Mittelschicht erfreut sich bürgerlicher Rechte, die keine Generation von Russen vor ihr besaß, verfügt über Privatbesitz und ist konsumorientiert.

Früher konnte Putin mit Slogans wie „Russland wird sich von seinen Knien erheben“ eine große Anhängerschaft gewinnen. Für die kommenden Jahre knüpft die Mittelschicht an den Präsidenten viel konkretere Erwartungen, die vor allem auf den Wunsch nach einem höheren Lebensstandard ausgerichtet sind. Wenn die russische Politik die in sie gesetzten hohen Erwartungen nicht erfüllt und es etwa zu einer längeren wirtschaftlichen Stagnation kommt, könnte sie in einigen Jahren mit denselben Problemen konfrontiert sein wie die heutigen autokratischen Regime in der arabischen Welt.

Regionale Wirtschaftsintegration

Außenpolitisch hat Russland just zum zwanzigsten Jahrestag des Zerfalls der Sowjetunion den Versuch unternommen, ein Reintegrationsmodell für die ehemaligen Sowjetrepubliken zu schaffen. Aufbauend auf der bereits bestehenden Zollunion zwischen Russland, Kasachstan und Belarus wurde eine weitere Integrationsvereinigung – die „Eurasische Union“ – aus der Taufe gehoben. Sie soll noch durch den Beitritt der Ukraine gestärkt werden, die sich auf ihrem langwierigen Weg der EU-Integration in Wertekonflikten mit dem Westen verfangen hat.

Die Eurasische Union hat als politische Integrationsstruktur allerdings kaum eine Entwicklungschance. An einer Neuerrichtung des russischen Imperiums haben Moskaus Nachbarstaaten kein Interesse. Auch wird dieser Zusammenschluss kaum eine gemeinsame Außen- und Verteidigungspolitik zustande bringen. In einer Zeit, in der die USA und die EU in der globalen Finanzkrise schwächeln, ist dagegen die regionale Wirtschaftsintegration für postsowjetische Staaten, die dringend billige Kredite und billiges Gas benötigen, von erheblichem praktischem Nutzen.

Außenpolitische Priorität Europa

Vieles deutet darauf hin, dass der künftige Kreml-Kurs eine Mischung aus beiden Szenarien wird, also zwischen einer Politik des starken Staates und notwendiger Modernisierung liegen wird.

Anders als zahlreiche westliche Staaten geht Russland als einer der Gewinner aus der Finanzkrise hervor. Das Land hält die drittgrößten Währungsreserven der Welt, ist praktisch schuldenfrei, hat einen ausgeglichenen Staatshaushalt und verfügt über alle notwendigen Rohstoffe und Energiereserven, die westliche und asiatische Wirtschaften für ihr Wachstum benötigen. Russland wird versuchen, die sich wandelnde Weltordnung in seinem Sinne zu einer multipolaren Ordnung umzubauen und das Entstehen neuer Pole durch die Unterstützung regionaler oder globalwirtschaftlicher Foren und Vereinigungen wie die G20, die BRICS-Gruppe, die Gas-OPEC, die Schanghai Organisation für Zusammenarbeit und die Eurasische Union zu fördern.

Die politische und wirtschaftliche Ausrichtung nach Asien könnte sich unter einem neuen Präsidenten Putin verstärken, doch der Wunsch nach einer führenden Rolle im „gemeinsamen Haus Europa“ bleibt Priorität russischer Diplomatie. Der scheidende Präsident Medwedew hat es bei seinem Antrittsbesuch in Berlin 2008 deutlich gemacht: Moskau strebt eine Kohabitation zwischen der EU und Russland auf dem gemeinsamen Kontinent an.

Der Westen hält allerdings bislang wenig von einem solchen Konzept, Russland gilt nach wie vor als absteigende, nicht als aufsteigende Macht. Politische Entscheider sollten jedoch die wirtschaftlichen Modernisierungsschritte, die gesellschaftliche Transformation Russlands und dessen außenpolitische Ausrichtung genau beobachten. Russland verfügt über größere Stabilität als Europa dies im Augenblick wahrnimmt. Diese Stabilität könnte für eine von der Schuldenkrise angeschlagene EU auch jenseits einer Politik der Energiesicherheit von größtem Vorteil sein.

Bibliografische Angaben

Rahr, Alexander . “Putin 3.0.” November 2011.

DGAPstandpunkt 12, 30. November 2011, 3 S.

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