Analyse

06. Dez. 2022

Nach der Ostpolitik

Lehren aus der Vergangenheit als Grundlage für eine neue Russland- und Osteuropapolitik
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Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zeigt das Scheitern der kooperativen deutschen Ostpolitik der letzten 30 Jahre sowie die Notwendigkeit einer energiepolitischen Entflechtung. Russland ist zum größten Sicherheitsrisiko in Europa geworden. Zur Wahrung der nationalen und europäischen Sicherheit muss die Ampelkoalition Lehren aus der Vergangenheit ziehen, einen radikalen Neuanfang in der deutschen Russland- und Osteuropapolitik einleiten und eine Führungsrolle in Europa übernehmen.

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Zentrale Erkenntnisse
Die kooperative deutsche Ostpolitik eines Wandels durch Annäherung und der wirtschaftlichen Verflechtungen ist gescheitert: Russland hat sich unter Wladimir Putin zum Gegner Deutschlands und der EU entwickelt. Abschreckung und Verteidigungsfähigkeit müssen wieder zu Grundelementen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik werden.

Ziel deutscher Politik müssen der Sieg der Ukraine, die Stärkung ihrer Verteidigungsfähigkeit sowie ihr Wiederaufbau und ihre Integration in die EU sein. Mit diesen Entwicklungen wird voraussichtlich auch ein Wandel in Russland einhergehen.

Deutschland sollte bei der Osteuropa- und Russlandpolitik in enger Abstimmung mit Partnerländern eine Führungsrolle in Europa übernehmen und sich dafür einsetzen, dass Abhängigkeiten abgeschafft und Sanktionen aufrechterhalten werden.
Bei der Entwicklung einer neuen Russlandstrategie sollten auch die Teile der russischen Eliten, Gesellschaft und Diaspora, die gegen den Krieg sind, angehört und integriert werden.

Den Text inklusive Fußnoten finden Sie im PDF rechts bzw. hier.

 

Inhalt

Executive Summary

Die Ostpolitik nach Ende des Kalten Krieges

Die Hoffnung des Westens auf einen Wandel in Russland

Deutschlands Rolle bei der Anerkennung und Integration der ehemaligen Ostblockstaaten

Vermittler und Verhinderer: Deutschlands ambivalente Russland- und Ukrainepolitik

Paradigmenwechsel in der deutschen Russlandpolitik

Sechs Grundprinzipien deutscher Ostpolitik nach 1990 im Realitätscheck

„Russia first“

„Wandel durch Annäherung“

„Interdependenz und Verflechtung als Garantie für Frieden“

„Sicherheit in Europa ist nur mit, nicht gegen Russland möglich“

 „Wirtschaft vor Geo- und Sicherheitspolitik“

„Historische Verantwortung verbietet Russland-Kritik“

Das deutsche Rollenverständnis

Ausblick und Handlungsempfehlungen

 

Excecutive Summary

Russlands Krieg gegen die Ukraine markiert den Schlusspunkt der kooperativen und auf gegenseitiger Abhängigkeit beruhenden deutschen Ost­politik nach Ende des Kalten Krieges. Dem Scheitern einer Politik des Wandels durch Annäherung und der gesellschaftlichen und energiepolitischen Verflechtung als Friedensmodell ging ein Realitätsverlust der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik voraus. Die wirtschaftliche und energiepolitische Kooperation mit Russland, der Versuch, durch stille Diplomatie sowie Angebote an den Kreml ein Entgegenkommen im Konflikt um die gemeinsame Nachbarschaft mit der EU zu erreichen, hat sich als nicht zielführend erwiesen. Wladimir Putins Politik des Machterhalts über ein System von Loyalität und Korruption, Repression gegen Opposition nach innen sowie Ablenkung innenpolitischer Defizite durch militärische Aggression nach außen stehen gegensätzliche deutsche Interessen von Rechtsstaatlichkeit, Stärkung von Multilateralismus und friedlicher Koexistenz gegenüber. Obwohl das Vertrauen in die deutsch-russischen Beziehungen spätestens seit der Annexion der Krim 2014 und dem Krieg in der Ostukraine massiv erschüttert wurde und Putin Deutschland und die EU als Gegner definierte, hat die Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel die energiepolitische Abhängigkeit von Russland weiter erhöht. Aufgrund zurückhaltender Reaktionen auf ihre Provokationen fühlten sich die Machthaber in Moskau zu weiteren Aggressionen ermutigt. Damit stand die Politik der 16-jährigen Ära Merkel energie- und wirtschaftspolitisch weitgehend in der Tradition ihrer Vorgängerregierung unter Gerhard Schröder. 

Erst als Reaktion auf die russische Invasion der ­Ukraine, die am 24. Februar 2022 begann, erfolgte ein grundlegender Paradigmenwechsel in der deutschen Politik. Neben dem Stopp von Nord Stream 2 und dem Beginn der energiepolitischen Entflechtung von Russland hat die Bundesregierung Waffenlieferungen an die Ukraine genehmigt, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr entschieden und im Rahmen der EU massive Sanktionen gegen Russland mit eingeleitet. Erstmalig wurde anerkannt, dass Russlands Aggression eine sicherheitspolitische Gefahr für Deutschland bedeutet und eine Niederlage der Ukraine auch die deutsche Sicherheit gefährdet. 

Die Versicherheitlichung aller Beziehungen mit Russland hat damit eine neue Stufe erreicht und wird die nächsten Jahre prägend für die bilateralen Beziehungen sein. Gleichzeitig brauchen Deutschland und die EU einen kurz-, mittel- und langfristigen Ansatz im Umgang mit Russland. Die vollständige Isolation kann auf lange Sicht nicht im Interesse Deutschlands und der EU sein, da sie die Sicherheitsakteure in Russland weiter stärkt und einen politischen und gesellschaftlichen Wandel behindert. Im Gegenteil: Das langfristige Ziel muss sein, dass Russland fundamentale Regeln und Grundsätze des Völkerrechts respektiert und seinerseits die berechtigten Sicherheitsbedürfnisse seiner Nachbarstaaten und der EU-Mitgliedstaaten berücksichtigt sowie von einer hybriden Hegemonialpolitik in geopolitischen Einflusssphären absieht.  

Eine neue deutsche Osteuropa- und Russland­politik muss auf der Überprüfung der Grundannahmen der Vergangenheit aufbauen und das Rollenverständnis Deutschlands in Europa und der Welt neu definieren. Die veränderten Rahmenbedingungen haben Konsequenzen für die deutsche und europäische Russland- und Osteuropapolitik. Dabei geht es nicht darum, alle früheren Ansätze über Bord zu werfen, sondern diese einem Realitätscheck zu unterziehen. Im Folgenden wird die These vertreten, dass Deutschland nach einer aktiven und progressiven Phase in der Ostpolitik in den 1990er Jahre zunehmend den Anschluss an Veränderungen in Russland und Osteuropa verloren hat. Durch die Dominanz von Wirtschaftsinteressen und die Negierung geopolitischer Interessenkonflikte wurde die traditionelle Ostpolitik einseitig auf wirtschaftliche und energiepolitische Kooperation ausgerichtet – mit einem Regime, das immer weniger Interesse an Kooperation und Integration hat. Auf Basis der neuen Realität muss Deutschland seine Rolle in Europa mit Blick auf Russland und die nichtrussische östliche Nachbarschaft neu definieren und eine Führungsrolle in der Erweiterungspolitik, der Abschreckung des aktuellen russischen Regimes und der Unterstützung eines langfristigen Wandels in Russland übernehmen.  

Einleitung

In der vorliegenden Studie wird die Forderung nach einer grundlegend neuen deutschen Russland- und Osteuropapolitik, die Lehren aus Fehlern der Vergangenheit zieht, anhand der Grundannahmen der deutschen Ostpolitik der letzten 30 Jahre analysiert. Ausgehend vom aggressiven Vorgehen des aktuellen russischen Regimes, das im Februar 2022 in einen großflächigen und noch immer andauernden Angriffskrieg gegen die Ukraine kulminierte, soll dabei die Ostpolitik der vergangenen Jahrzehnte auf den Prüfstand gestellt und aufgearbeitet werden. Im ersten Kapitel werfen wir einen kritischen Blick auf die deutsche Ostpolitik nach Ende des Kalten Krieges und identifizieren Erfolge und Schwächen dieser Phase. Anschließend möchten wir im zweiten Kapitel sechs zentrale Prinzipien der deutschen Ostpolitik nach 1990 analysieren und einem Realitätscheck unterziehen. Im dritten Kapitel gehen wir auf das deutsche Rollenverständnis vor dem Hintergrund sich verändernder globaler Gegebenheiten ein und ziehen im abschließenden vierten Kapitel ein Fazit, in dem wir neun Handlungsempfehlungen für die Politik formulieren. Denn: Nur eine Aufarbeitung der deutschen Ostpolitik der letzten 30 Jahre ermöglicht einen Neuanfang in der Osteuropa- und Russlandpolitik der Bundesregierung. 

 

Die Ostpolitik nach Ende des Kalten Krieges

Angesichts der Bedeutung der Sowjetunion sowie der östlichen Nachbarn für die Überwindung der deutschen Teilung hat die Ostpolitik in Westdeutschland eine zentrale Rolle in der Außen- und Sicherheitspolitik seit Ende der 1960er Jahre gespielt. Dabei war der von Bundeskanzler Willy Brandt und seinem außenpolitischen Berater Egon Bahr propagierte „Wandel durch Annäherung“ nur möglich in Kombination mit einer robusten militärischen Abschreckungspolitik gegenüber dem Ostblock. Die Sowjetunion als Status-quo-Macht brauchte Anerkennung, um ihren Einflussbereich abzusichern und in der Systemkonkurrenz zu bestehen. Die deutsche Ostpolitik entsprach mit der Anerkennung der Ostgrenzen Deutschlands und der Verständigung mit der DDR diesem Interesse und schuf gleichzeitig ökonomische Anreize durch das Erdgas-Röhren-Geschäft.

Die Hoffnung des Westens auf einen Wandel in Russland

Mit dem Ende des Kalten Krieges und dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er war es aus deutscher Sicht sinnvoll, Russland durch einen kooperativen Ansatz in seiner Transformation zur Marktwirtschaft und Demokratie zu unterstützen. Dabei dienten der Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen und die wachsende energiepolitische Verflechtung dazu, Russland zu transformieren, zu stabilisieren und stärker in bestehende Strukturen in Europa zu integrieren. Gleichzeitig erschlossen sich deutsche Unternehmen einen großen Markt und günstiges russisches Pipeline-Gas gewann eine zunehmend wichtige Rolle für die deutsche Wirtschaft. Die Verfolgung dieser politischen Linie nach der Wende in Osteuropa beruhte auf der nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA verbreiteten Annahme, dass sich Russland zu einer Demokratie entwickeln würde. Diese Hoffnung schloss sogar die Perspektive einer Mitgliedschaft Russlands in der NATO ein. Noch 1993 warb der ehemalige US-Außenminister James Baker in einem Namensbeitrag für eine solche Perspektive, da sie seiner Ansicht nach den demokratischen Wandel in Russland befördern und damit die Rückkehr zum Autoritarismus verhindern würde. Eine Erwartung, die jedoch bereits im Verlauf der 1990er Jahre enttäuscht wurde. Der erneut aufkommende hegemonial-nationalpatriotische Diskurs in Russland bestärkte die Bestrebungen der ostmitteleuropäischen und baltischen Staaten, ­möglichst schnell Mitglied der NATO zu werden. Insofern kann zwar argumentiert werden, dass sich die USA und ihre westlichen Partner Anfang der 1990er Jahre nicht ausreichend bemühten, Russland stärker institutionell in Europa zu integrieren und ein neues europäisches Sicherheitss­ystem mit Russland ohne die NATO zu schaffen. Jedoch geschah dies nicht – wie von Machthabern im Kreml ­behauptet – mit der Absicht, Russland niederzuhalten oder zu demütigen, sondern in der Annahme, dass Russland eine Demokratie werden würde und der Systemkonflikt ein Ende gefunden hat. Die Überschätzung des Siegeszugs von Demokratien weltweit, aber auch eine falsche Annahme über die Einwicklung in Russland sowie die Unterschätzung der dortigen Wahrnehmung einer Demütigung, beeinflussten wesentlich die Entfremdung in den Folgejahren.

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Deutschlands Rolle bei der Anerkennung und Integration der ehemaligen Ostblockstaaten

Parallel dazu spielte die Bundesrepublik eine zentrale Rolle bei der Anerkennung der neuen unabhängigen Staaten aus der Konkursmasse der Sowjetunion und bei der EU- und NATO- Osterweiterung in Ostmitteleuropa. Die Stabilisierung und Integration der Staaten des Ostblockes in die EU waren ein zentrales Anliegen Deutschlands. Es übernahm hierbei eine Führungsposition in Europa und profitierte davon ökonomisch und sicherheitspolitisch. Die ostmitteleuropäischen Staaten wurden wichtige Märkte und vor allem integrative Teile der deutschen Wertschöpfungskette, die neben den günstigen russischen Rohstoffen zentral für den Erhalt Deutschlands als Industriestandort ­waren. Auch die Länder Ostmitteleuropas profitierten ihrerseits ökonomisch von dieser Entwicklung. Dabei war Deutschland durch die NATO-Osterweiterung kein Frontstaat mehr in Europa. Eine Führungs- und Vermittlerrolle nahm Deutschland auch in den wachsenden Krisen im östlichen Europa ein: 2008 im Vorfeld des russisch-georgischen Krieges sowie 2014 nach dem Euromaidan, der sogenannten „Revolution der Würde“, und der russischen Aggression gegen die Ukraine im Rahmen des Normandie-Formats mit Frankreich. Gleichzeitig war die deutsche Politik darauf bedacht, Russland nicht zu provozieren und ging Kompromisse auf Kosten anderer Staaten ein. So war Deutschland neben Frankreich maßgeblicher Akteur bei der Verhinderung des Membership Action Plans (MAP) für die Ukraine und Georgien und akzeptierte damit indirekt russische Einflusssphären. Selbst wenn die NATO-Mitgliedschaft, zumindest für die Ukraine, Ende der 2000er Jahre innen- und gesellschaftspolitisch noch höchst umstritten war, war es ein Fehler, sich nicht spätestens nach dem russisch-georgischen Krieg dafür einzusetzen, dass beide Staaten als Ausgleich für den verweigerten MAP beim Aufbau ihrer Sicherheit umfassende Unterstützung von Deutschland, den europäischen NATO-Staaten sowie der EU erhielten. Ein solcher Politikwechsel hätte allerdings die Einsicht erfordert, wie prekär die sicherheitspolitische Lage für beide Staaten bereits 2008 war.

Vermittler und Verhinderer: Deutschlands ambivalente Russland- und Ukrainepolitik

Im Zuge dieser Entwicklungen zeigte sich eine wachsende Ambivalenz in der deutschen Politik. Einerseits spielten die Regierenden in Berlin eine zentrale Rolle bei der Aushandlung der zwei Minsker Abkommen nach der Annexion der Krim und dem Krieg im Donbass sowie bei der Stabilisierung der Ukraine. Durch massiven diplomatischen Einsatz hat Deutschland gemeinsam mit Frankreich im Februar 2015 wahrscheinlich verhindert, dass die russischen Streitkräfte die erst im Neuaufbau befindliche ukrainische Armee weiter zurückdrängen und schon damals zusätzliche Territorien besetzen konnten. So wurde die russische Aggression zumindest ausgebremst und der Ukraine eine wichtige Atempause verschafft, die ihr Zeit zum Ausbau der eigenen Verteidigung gab. Gleichzeitig entwickelte sich Deutschland zu einem für die Ukraine wichtigen Partner, der nie nur Vermittler war, sondern das Land auch bei seinem legitimen Ziel unterstützte, die volle Souveränität über die im Donbass besetzten Gebiete zurückzuerlangen. Deutschland hat sich sowohl finanziell wie beratend stark für die Stabilisierung des Landes eingesetzt – mit bis heute für die äußere Resilienz des ukrainischen Staates positiven Auswirkungen: Die von Deutschland breit unterstützte Reform der kommunalen Selbstverwaltung hat die lokale Zivilgesellschaft und den kommunalen Patriotismus spürbar gestärkt, der wiederum für die Verteidigungs- und Überlebensfähigkeit gerade der Süd- und Ostukraine im russischen Angriffskrieg kaum unterschätzt werden kann. Deutschland war außerdem ein wichtiger Akteur bei der Durchsetzung und der Verlängerung von EU-Sanktionen gegenüber Russland seit 2014, was als echter Paradigmenwechsel der deutschen Politik bewertet werden kann.

Andererseits hielt die Bundesregierung an den Minsker Abkommen fest, auch als immer deutlicher wurde, dass die russische Seite sie nicht umsetzen würde. Dabei verfügten Deutschland und Frankreich über keine Hebel, um auf Russland einzuwirken. Zudem waren beide Länder nicht in der Lage, oder nicht bereit, den Einsatz weiterer Instrumente zu erwägen, etwa die Verschärfung der Sanktionen oder einen Rückzug aus dem Pipeline-Projekt Nord Stream 2. Und dies selbst dann nicht, als Russland erneut schwere Rechtsbrüche beging, wie zum Beispiel mit dem Bau der Krimbrücke und dem Militärangriff auf Boote der ukrainischen Marine, die die russische Blockadepolitik gegenüber der Ukraine im Asowschen Meer einleiteten. So lag der Handlungsdruck, durch Entgegenkommen gegenüber Moskau sowie eigene Angebote, das Abkommen zu retten, meist einseitig auf Seiten der Ukraine. Noch gravierender schwächte Deutschland seine eigene Politik zur Stärkung der Ukraine gegenüber Russland durch die Unterstützung von Nord Stream 2 gegen massiven Widerstand der USA, von EU-Partnern, wie den baltischen Staaten und Polen, sowie besonders der Ukraine. Wäre die Pipeline in Betrieb gegangen, hätte sich die Verhandlungsposition der Ukraine gegenüber Russland weiter verschlechtert. Auf die zunehmend aggressiven Handlungen Russlands gegenüber Deutschland, der EU und Oppositionellen („Tiergartenmord“, Umgang mit Oppositionspolitiker Alexei Nawalny, Desinformation und Hackerangriffe) reagierte man in Berlin eher mit einer Appeasement-Politik, um die Beziehungen nicht weiter zu verschlechtern. Selbst als deutlich wurde, dass die russische Seite kein Interesse an Dialog und Kooperation hatte, wurde am Kooperationsparadigma festgehalten.

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Paradigmenwechsel in der deutschen ­Russlandpolitik

Dabei hatte bereits während der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder (1998 bis 2005) ein Paradigmenwechsel in der deutschen Russlandpolitik stattgefunden, der das Primat von wirtschaftlichen Interessen in den Vordergrund stellte. Die Unterstützung für Nord Stream 2 und die wachsende Energieabhängigkeit Deutschlands von Russland in der Amtszeit von Angela Merkel (2005 bis 2021) – trotz der russischen Aggression gegen die Ukraine 2014 – ließ in Moskau den Eindruck entstehen, Deutschland sei opportunistisch und ausschließlich von wirtschaftlichen Interessen geleitet. Dabei betrieb die Bundesregierung keine Außenwirtschaftspolitik im nationalen Interesse, sondern „Außen-Unternehmenspolitik“. Die Vorsorge für das Land wurde sogar heruntergefahren und die Politik konzentrierte sich auf die Förderung großer Unternehmen, denen so der Zugang zu Anteilen bei der Gasförderung ermöglicht wurde. Eine Politik, die auf ähnliche Weise gegenüber China betrieben wird.

Die unter dem damaligen Außenminister Frank-Walter Steinmeier 2008 bei einer Rede an der Universität Jekaterinburg angekündigte „Modernisierungspartnerschaft“ mit Russland sollte durch wirtschaftliche Modernisierung und Technologietransfer einen gesellschaftlichen und politischen Wandel in Russland befördern. Die bilaterale Verengung und Konzentration der deutschen Osteuropapolitik auf Russland ließen die Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger in Berlin jedoch schon in der ersten Hälfte der 2000er Jahre übersehen, dass Russland seine destruktive Politik des Malign Influence im „nahen Ausland“ im Gefolge der sogenannten Farbrevolutionen in Georgien und der Ukraine intensivierte, um die nach Europa strebenden Staaten zu destabilisieren und damit in der eigenen Einflusssphäre zu behalten. Nach der globalen Finanzkrise 2008/2009 und mit der Wahl von Dmitri Medwedew (2008 bis 2012) zum Interimspräsidenten schien sich dann, aus Sicht der genannten politischen Eliten in Deutschland, der erhoffte Wandel in der russischen Politik zu bewahrheiten. Doch diesem Versuch einer Öffnung und engeren Kooperation mit der EU wurde mit der Rückkehr von Wladimir Putin ins Präsidentenamt 2012 schnell ein Ende gesetzt. Aufgrund einer Legitimationskrise des Systems Putin, die durch die Finanzkrise 2008/2009 ausgelöst wurde, gewann der Konflikt mit dem Westen und allen voran den USA an zentraler Bedeutung. Auch Deutschland und die EU wurden zunehmend vom russischen Regime als Gegner betrachtet, denen man zwar noch Öl und Gas verkaufen konnte, deren inneren Zusammenhalt die russische Politik jedoch immer stärker durch Desinformationskampagnen, Cyberattacken und der Kooperation mit rechten Parteien schwächen wollte.

Sechs Grundprinzipien deutscher Ostpolitik nach 1990 im Realitätscheck

Im Folgenden stellen wir sechs zentrale Prinzipien vor, auf denen aus unserer Sicht die deutsche Ostpolitik nach 1990 basierte und die wir rückblickend einem „Realitätscheck“ unterziehen möchten. Konkret gehen wir der Frage nach, inwiefern diese Leitlinien vor dem Hintergrund der politischen Realität nachvollziehbar oder bereits damals auf falschen Annahmen basierten und somit problematisch waren. Darüber hinaus soll erörtert werden, weshalb der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine die Bundesregierung weitgehend unvorbereitet traf und ob beziehungsweise warum Anzeichen für diese Aggression übersehen wurden.  

„Russia first“

Hintergrund: Historisch war Russland immer der wichtigste Ansprechpartner für die relevanten machtpolitischen Fragen in der östlichen Nachbarschaft. Als globale Führungsmacht während des Kalten Krieges hat die Sowjetunion über die Belange aller Staaten im Ostblock entschieden. Diese waren nicht souverän in ihrer Außen-, Sicherheits- und Innenpolitik. Nur durch Zustimmung aus Moskau konnte die BRD zum Beispiel Beziehungen zur DDR und anderen Ostblockstaaten entwickeln. Die Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr spiegelte die Anerkennung dieser Realität wider. Doch dieser vor allem von der deutschen Sozialdemokratie entwickelte Ansatz hat bereits in den 1980er Jahren zu Fehleinschätzungen geführt, indem etwa die Solidarnosc-Bewegung in Polen nicht unterstützt wurde und damit gesellschaftliche Wandlungsprozesse in Polen und anderen Staaten des Warschauer Paktes wie der Tschechoslowakei unterschätzt wurden. Egon Bahr beschuldigte die Solidarnosc durch die Destabilisierung Polens das Gleichgewicht der Blöcke als Friedensgarantie zu gefährden. Auf dieser Politik basierte auch die Skepsis gegenüber der deutschen Russlandpolitik, die vor allem unter Gerhard Schröder zunahm. Denn der Zerfall der Sowjetunion hatte neue unabhängige Staaten hervorgebracht, die ihren Weg ohne Russland gehen wollten und historisch negative Erfahrungen mit Russland und Deutschland gemacht hatten. Die Definition der deutschen Osteuropapolitik über die Interessen Moskaus entfremdete diese Länder von der deutschen Politik, insbesondere je mehr sie sich von Russland emanzipierten. Im Gegensatz zur Integration der ostmitteleuropäischen Länder agierte die Bundesregierung bei den postsowjetischen Staaten zunehmend als Bremse bezüglich ihrer Integration in die EU und NATO, um Russland nicht zu provozieren. Dies geschah jedoch, ohne alternative Angebote zu machen und ohne zu erkennen, dass diese „Russia first“-Politik indirekt die Vorstellung von einer begrenzten Souveränität dieser Staaten implizierte.  

Realitätscheck: Die Tatsache, dass sich 30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion unabhängige, souveräne Staaten konsolidiert hatten und eigene nationale Interessen mit einer Entwicklung weg von Russland verfolgten, führte zu immer mehr Konflikten mit Russland. Hierbei hat die Bundesregierung unter anderem mit Blick auf die Ukraine im Jahr 2014 und danach zwar eine Vermittlerrolle in Konflikten gespielt, aber dabei lange Zeit stärker die Neutralität der Ukraine unterstützt als deren Eigenständigkeit oder gar Integration in transatlantischen Institutionen. Dass Deutschland und Frankreich auf dem Bukarester NATO-Gipfel 2008 einen MAP als Vorbereitung für einen Beitritt der Ukraine und Georgiens verhindert haben, wird heute als wichtiger Grund dafür angesehen, dass der russische Angriff auf die Ukraine nicht verhindert werden konnte. Diese Rücksichtnahme signalisierte dem Kreml, dass russische Einflusszonen anerkannt würden und keine ­umfassende Sanktionierung möglicher russischer Aggressionen gegenüber Nachbarländern zu befürchten seien. Problematisch dabei war, dass Russland dieses Entgegenkommen als Schwäche ansah.   

Feststeht, dass das heutige Russland eine revisionistische Macht ist. Die Regierenden im Land möchten „traditionelle“ Einflusszonen anerkannt bekommen und Grenzen bei Bedarf verschieben können. Dabei geht es hauptsächlich um die Revision der durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen territorialen Verluste. Russlands Führung möchte bei allen sicherheitspolitischen Fragen in Europa ein Veto haben und den Einfluss der USA und NATO in Europa begrenzen. Aber dies zu akzeptieren, widerspräche nicht nur dem Völkerrecht und der von ihm garantierten Souveränität der Staaten, sondern dem deutschen und europäischen Interesse von kollektiver Sicherheit.  

Fazit: Deutschland hat seine Außenpolitik gegenüber Osteuropa zu sehr unter Berücksichtigung russischer Interessen entwickelt und dabei die Sicherheitsinteressen der postsowjetischen Staaten nicht angemessen beziehungsweise gleichberechtigt einbezogen.   

„Wandel durch Annäherung“

Hintergrund: Während die Ostpolitik im Kalten Krieg darauf ausgerichtet war, durch wirtschaftliche Kooperation mit der Sowjetunion Konzessionen in der Annäherung mit Ostdeutschland zu erreichen und die unmittelbare militärische Eskalation zu reduzieren, setzte die neue Ostpolitik nach 1990 auf einen politischen Wandel in Russland durch wirtschaftliche Kooperation. Ziel war es, durch die technologische und wirtschaftliche Modernisierung Russlands, auch eine Demokratisierung zu unterstützen. Die wirtschaftliche Entwicklung im Land sollte einen Mittelstand fördern, der wachsendes Interesse an politischer Teilhabe und Rechtsstaatlichkeit artikulieren würde.  

Realitätscheck: Auch wenn Anfang der 1990er Jahre russische Eliten noch ein gewisses Interesse an einer Demokratisierung im Land und einer Integration in Europa hatten, änderte sich das spätestens seit 2000 mit Wladimir Putins Wahl zum Präsidenten. In den ersten Amtsjahren förderte seine Regierung mit steigenden Preisen für Öl und Gas eine Integration in die Weltwirtschaft sowie technologische Modernisierung. Dennoch war ein politischer Wandel aus Sicht der Machtelite nie das Ziel. Mit einem zunehmend autoritären Führungsstil des Regimes und der wachsenden Dominanz von Sicherheitsakteuren in Russlands Politik und Wirtschaft strebte Putin insbesondere in seiner dritten Amtszeit weniger Abhängigkeit von den globalen Finanzmärken, Bankensystemen und westlichen Technologien an. In den Fokus rückte Russlands Souveränität in unterschiedlichen Bereichen. Aufgrund seines Interesses an Selbstbereicherung und Machterhalt schloss das System Putin politischen Wettbewerb aus und begrenzte die Teilhabe alternativer politischer Akteure systematisch. 

Auch eine Modernisierung und Öffnung der russischen Gesellschaft waren nicht im Sinne des Regimes, das dadurch die Kontrolle hätte verlieren können. Die Massendemonstrationen gegen Putins Rückkehr ins Präsidentenamt in verschiedenen russischen Großstädten 2011/2012 haben genaue diese Befürchtungen befeuert und schließlich nach seiner Wiederwahl zum Ausbau von Repressionen gegen Opposition, Zivilgesellschaft und unabhängige Medien geführt. Dennoch sei an dieser Stelle angemerkt, dass es durch den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Austausch, der unter anderem von Deutschland gefördert wurde, auch die Modernisierung eines (meist urbanen) Teils der russischen Gesellschaft unterstützt worden ist. Deren Einfluss reichte jedoch nicht aus, um größere Veränderungen zu bewirken, beziehungsweise wurde die aktive Zivilgesellschaft durch Repressalien von der politischen Teilhabe zunehmend ausgeschlossen.  

Dass die Regierenden in Berlin trotz dieser Repressionen und der damit einhergehenden Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Austauschs zwischen beiden Ländern an ihrer Russlandpolitik festhielten, kann entweder mit Naivität oder falschen Prioritäten erklärt werden. So wurde die Formel „Wandel durch Annäherung“ zunehmend durch „Wandel durch Handel“ abgelöst. Die Argumentation, mit dem Ausbau der Wirtschafts- und Energiebeziehungen langfristig auch gesellschaftlichen Wandel in Russland zu erzielen, war für die deutsche Wirtschaft bequem, um der wachsenden Kritik am Handel mit einem zunehmend autoritär agierenden Russland zu begegnen. So haben Unternehmen und ihre Lobbyorganisationen immer mehr Einfluss auf die deutsche Russlandpolitik gewonnen und wirtschaftliche Interessen dominierten gegenüber sicherheitspolitischen und menschenrechtlichen Abwägungen. Ungeachtet dessen, hat es sich bei historischer Betrachtung als fragwürdig erwiesen, dass wirtschaftliche Kooperation und politischer Wandel zwangsläufig miteinander zusammenhängen. Auch bei China, dessen aggressives Vorgehen nach innen und außen aktuell Diskussionen über Parallelen zu Russland ausgelöst hat, führte diese Formel nicht zu einer Demokratisierung. Die Kommunistische Partei hat trotz wirtschaftlicher Modernisierung keine Macht abgegeben, sondern im Gegenteil ihren Kontrollapparat weiter ausgebaut. Mit Blick auf Russland ist der Normentransfer in die andere Richtung unterschätzt worden, da russische Eliten ihr Geld in europäischen und US-amerikanischen Finanz- und Bankensystem waschen konnten, um dann in Immobilen und Firmen zu investieren. Gleichzeitig wurden (ehemalige) deutsche und andere europäische Politiker dafür bezahlt, russische Wirtschafts- und Politikinteressen in ihren Herkunftsstaaten zu promoten.  

Fazit: Lange herrschte in Deutschland die Annahme, dass wirtschaftliche Kooperation den politischen und gesellschaftlichen Wandel in Russland befördern würde. Doch die wirtschaftliche Kooperation hat das Regime eher gestärkt, in gesellschaftlicher Hinsicht nur begrenzte Auswirkung gehabt und einen Normentransfer in die andere Richtung bewirkt. 

„Interdependenz und Verflechtung als Garantie für Frieden“

Hintergrund: Aus Sicht damaliger führender Sozialdemokraten waren es die wachsende Interdependenz und Verflechtung mit der Sowjetunion und dem Ostblock, die maßgeblich zu einem friedlichen Wandel nach dem Zerfall der Sowjetunion beigetragen haben. Die Sowjetunion habe jedoch, so die wissenschaftliche Literatur, vor allem das Wettrüsten und den wirtschaftlichen Wettbewerb verloren, was zu einem „Sieg“ des Westens führte. Dass die Bundesregierung nach 1990 auf die genannte wirtschaftliche und energiepolitische Interdependenz und gesellschaftliche Verflechtung gesetzt hat, erwies sich zunächst als sinnvoll und stabilisierend. Dabei standen von Anfang an Win-win-Kategorien im Vordergrund und die positive Wirkung von gegenseitiger Abhängigkeit. Vollständig ausgeblendet in dieser Konzeptionalisierung wurde, dass die russische Politik jedoch in Win-lose-Kategorien denkt. Gab es unter Wladimir Putin bis zum Beginn seiner dritten Amtszeit noch großes Interesse an westlicher Technologie für die eigene Wirtschaft, so änderte sich das ab 2014. Mit den Sanktionen durch den Westen nach der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine orientierte sich die russische Politik stärker Richtung technologische Souveränität und Autarkie. China wurde, zumindest offiziell, zum wichtigsten russischen Technologiepartner ausgerufen. Interdependenz wurde als Verletzlichkeit angesehen, die es abzubauen galt. Und die gesellschaftliche Verflechtung wurde als Einflussnahme von außen definiert, die durch die Agentengesetzgebung sukzessive ­erschwert werden sollte.  

Realitätscheck: Zwar waren die zentralen Prämissen der deutschen Außenpolitik gegenüber Russland einschließlich des Verflechtungsansatzes nicht grundsätzlich falsch. Allerdings erfolgte erstens keine wirkliche Gegenseitigkeit und erwiesen sich zweitens die wirtschaftliche Verflechtung und stille Diplomatie als unzureichend, um der Entfremdung mit Russland entgegenzuwirken. Stattdessen hätte es eine strategische Verflechtungspolitik gebraucht, die nicht als exklusive bilaterale Politik, sondern im Kontext der europäischen Energiepolitik hätte betrieben werden müssen und die die berechtigten Interessen der östlichen europäischen Partner im Hinblick auf ihre Versorgungssicherheit berücksichtigt hätte. Statt Vorreiter einer gesamteuropäischen Gasspeichervorsorge zu werden, wollte Deutschland mit Nord Stream 2 allein zum „Energy hub“ werden und hat damit gegen eine weitere Prämisse deutscher Außenpolitik verstoßen: dass Deutschland in für die EU wichtigen Fragen nie ohne Abstimmung mit seinen Partnern agiert. Zudem hätte eine sinnvolle Verflechtung bedeuten müssen, die Ukraine als Transitland für Gas zu stärken und nicht, wie durch Nord Stream 2 geschehen, zu schwächen. Denn mit der umstrittenen Pipeline wäre das Erpressungspotenzial Russlands gegenüber der Ukraine wesentlich gewachsen, da die Ukraine als wichtiges Partnerland für den Transit und die Lagerung von Gas überflüssig geworden wäre. In dieser Hinsicht war bereits die Pipeline Nord Stream 1 ein Fehler, denn das weitverzweigte ukrainische Leitungssystem verfügte über ausreichend Durchleitungskapazitäten, was die Notwendigkeit von zwei Gaspipelines grundsätzlich infrage stellt.  

Schließlich hat die Bundesregierung mit ihrer „Russia-first“-Energiepolitik die eigenen Ziele ihrer erfolgreichen Reformunterstützung in der Ukraine torpediert, wonach die Förderung von Good Governance auch die Stabilität und Resilienz der Staaten der Östlichen Partnerschaft (ÖP) bewirken sollte. 

Dass die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger in Berlin trotzdem auf eine wachsende energiepolitische Abhängigkeit von Russland inklusive Erhöhung der Gasmengen und des Verkaufs von Gasspeichern an den teilstaatlichen Konzern Gazprom gesetzt haben, kann mit Blick auf die  strategische Infrastruktur und die Energiesicherheit Deutschlands nur als fahrlässig bezeichnet werden. Die russische Führung setzte darauf, dass Deutschland im Tausch gegen billiges Gas weiterhin russische Interessen in der EU vertreten würde. Und auch wenn Angela Merkel die Sanktionen gegen Russland nach 2014 unterstützte, wurde Deutschland durch Russland weiterhin als Schwachstelle in der EU identifiziert und der Einfluss auf die deutsche Politik und Wirtschaft weiter ausgebaut.  

Die genannte Abhängigkeit von Rohstoffen aus Russland, allen voran von Gas, wuchs bis zum Ausbruch des Krieges gegen die Ukraine im Februar 2022 stetig. Zuletzt betrug der Anteil an importiertem Gas aus Russland 55 Prozent aller Gasimporte nach Deutschland. So konnte Putin Energie als Waffe einsetzen und systematisch ein Netzwerk an Unterstützern russischer Einflusspolitik in Deutschland aufbauen: Das deutsche Interdependenz-Model wurde zum erfolgreichen Einflussinstrument des Kremls. Die russische Führung versicherheitlichte fast alle Bereiche ihrer Innen-, Außen- und Wirtschaftspolitik sowie Energie- und Klimapolitik. Vor dem Hintergrund dieser geopolitischen Interessen muss auch die Gas- und Pipelinepolitik des Kremls verstanden werden. Nord Stream 2 war weniger ein wirtschaftliches Projekt, als vielmehr ein Instrument, um Einfluss auf die deutsche und europäische Politik auszuüben und die Ukraine als Transitland zu umgehen. Diese Kalkulation sollte auch im Kontext der russischen Invasion der Ukraine gesehen werden.  

Die systematische Einschränkung des zivilgesellschaftlichen Austausches hat eine weitere zentrale Säule der an Interdependenzen interessierten deutschen Russland- und Ostpolitik getroffen. Dabei nutzte die russische Politik selbst Plattformen wie den Petersburger Dialog und das Deutsch-Russische Forum für seine Einflusspolitik auf die deutsche Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Der Petersburger Dialog als (auf russischer Seite) in erster Linie staatlich organisiertes Format diente zunehmend der Pflege von Kontakten zu dem Kreml genehmen Personen in Deutschland und der Einflussnahme auf die deutsche Politik. 

Fazit: Wirtschaftliche und gesellschaftliche Interdependenzen können zwar grundsätzlich Vertrauen schaffen und Konflikte verhindern. Doch genau solch eine Verflechtung wurde von Wladimir Putin als Einflussnahme und Verletzlichkeit wahrgenommen. Trotz energiepolitischer Verflechtung mit Russland konnte kein Vertrauen aufgebaut und der Krieg gegen die Ukraine nicht verhindert werden. Im Gegenteil, diese Politik hat zu Abhängigkeiten geführt, die Deutschland zurzeit schmerzhaft zu spüren bekommt. 

„Sicherheit in Europa ist nur mit, nicht gegen Russland möglich“

Hintergrund: Russland konnte als ein zentraler Akteur in der europäischen Sicherheitsarchitektur nicht ignoriert werden. Aus diesem Grund war es seit den 1970er Jahren ein zentrales Anliegen der deutschen Außenpolitik, die Sowjetunion und später Russland in Systeme kollektiver Sicherheit einzubinden, etwa die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) später als OSZE. Klar ist: Russland ist zurzeit eine der größten Atommächte der Welt und hat enormes militärisches Potenzial. Ein Krieg gegen Russland könnte zur Vernichtung Europas beziehungsweise einer globalen Katastrophe führen, weshalb Russland in verschiedene vertrauensbildende und sicherheitspolitische Verträge und Institutionen integriert wurde.

Realitätscheck: Die zunehmende Nichtbeachtung beziehungsweise der Missbrauch von Organisationen wie der OSZE und des Europarats durch die russische Führung haben zu einer Schwächung multilateraler Institutionen geführt. Indem Russland Systeme kollektiver Sicherheit nicht nur nicht mehr anerkennt, sondern auch aushöhlt, untergräbt es Sicherheits- und Vertrauensbildung in Europa. Der Versuch deutscher Regierungen, durch Kompromisse Russland in diesen Institutionen zu halten, hat deshalb ihre Glaubwürdigkeit und Rolle in Europa geschwächt. Es ist richtig, dass es ohne ein kooperatives Russland keine Sicherheit in Europa gibt. Doch aktuell ist Sicherheit in Europa nicht mit, sondern nur gegen Russland möglich. Krieg, hybride Formen der schädlichen Einflussnahme und militärische Mittel sind zentrale Instrumente russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden. Die russischen Vorschläge für eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa mit eigenen Einflusszonen und einem Rückzug der NATO widersprechen deutschen Interessen und sollen den Westen schwächen.

Gleichzeitig ist Deutschland den eigenen Ansprüchen zur Förderung einer liberalen regelbasierten Ordnung sowie der traditionell betonten Wahrung des Völkerrechts nicht gerecht geworden. Zum einen wurde spätestens nach 2014 offensichtlich, dass sich das Völkerrecht gegenüber revisionistischen Mächten nicht ausschließlich durch Diplomatie wahren lässt. Trotz eines in verschiedenen Teilen der Welt zunehmend aggressiv auftretenden Russland, das die Destabilisierung der unmittelbaren Nachbarschaften der EU bewusst gefördert und genutzt hat, hat die damalige Bundesregierung daraus keine sicherheitspolitischen Konsequenzen gezogen. Sie hat die ihr zur verfügenden stehenden Mittel wie beispielsweise eine selbstbewusste Diplomatie oder ihre Wirtschafts- und Sanktionsmacht (samt der Beendigung von Nord Stream 2) nicht vollständig eingesetzt, um ein immer aggressiver auftretendes Russland aufzuhalten. Dass Deutschland nach 2014 an einer Sanktionspolitik gegenüber Russland maßgeblich beteiligt war, kann als eine Art Kehrtwende gesehen werden. Jedoch hat diese Politik widersprüchliche Signale ausgesendet: Einerseits war es Angela Merkel, die die EU immer wieder bei der Verlängerung von Sanktionspaketen zusammengehalten hat. Andererseits wurde unter ihrer Regierung Nord Stream 2 zu Ende gebaut. Die Weichen dafür wurden nur wenige Monate nach der russischen Aggression im Donbass in der Schlacht von Debalzeve im Februar 2015 gestellt. Diese führte zum „Maßnahmenpaket zur Implementierung der Minsker Vereinbarungen“, das die Position der Ukraine erneut verschlechterte. Insgesamt achtete auch die Bundesregierung darauf, dass die ökonomischen Kosten für die Sanktionen nach 2014 auf beiden Seiten niedrig gehalten wurden.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass nicht nur die Bundesregierung, sondern auch die EU und NATO gegenüber der russischen Dominanzpolitik im Schwarzmeerraum zu passiv blieben – selbst nach der Annexion der Krim. Auf hybride Handlungsmuster aus Moskau, die das Seevölkerrecht und die Sicherheit in der Region permanent untergruben, sowie auf massive Völkerrechts- oder Vertragsbrüche wie präzedenzlose Seegebietssperrungen wurde kaum angemessen reagiert. Ähnliches gilt für die massive russische Aufrüstung der Krim, unter anderem mit seegestützten nuklear bestückbaren Mittelstreckenraketen auf den Schiffen der ebenfalls seit 2014 stark aufgerüsteten Schwarzmeerflotte, die nicht nur die Ukraine, sondern auch Europa bedrohen. In der Konsequenz schlitterte die Ukraine an ihren Südgrenzen bereits vor 2022 in eine gegenüber Russland militärstrategisch fast aussichtslose Lage. Neben der Energiepolitik bildet die Vernachlässigung der steigenden Spannungen und von Russland ausgehenden Bedrohungen im Schwarzen Meer ein schweres Versäumnis der deutschen beziehungsweise europäischen Osteuropapolitik.

Fazit: Jahrzehntelang galt in Deutschland die Annahme, dass Sicherheit in Europa nur mit Russland möglich sei. Doch die Machthaber in Russland hatten kein Interesse an kollektiver Sicherheit und zielten mit ihrer Politik darauf ab, Einflussräume anerkannt zu bekommen. Somit führte die durch Deutschland betriebene Politik der Einbindung eher zu weniger Sicherheit. Die russische Führung hat Institutionen kollektiver Sicherheit systematisch geschwächt und zunehmend das militärische Gleichgewicht in der gemeinsamen Nachbarschaft mit der EU verschoben.

„Wirtschaft vor Geo- und Sicherheitspolitik“

Hintergrund: Deutschlands Ablehnung, eine sicherheitspolitische Führungsrolle in einem sich verändernden geopolitischen Umfeld einzunehmen, negierte bisher globale Trends und Zusammenhänge und schwächte seine Position als international wichtiger Akteur. Indem die politischen Verantwortlichen hierzulande Energieprojekte wie Nord Stream 2 lange Zeit als rein wirtschaftliches Projekt definierten sowie die damit zusammenhängenden macht- und geopolitischen Implikationen ignorierten, haben sie der russischen Führung ermöglicht, Energieprojekte zur Spaltung der EU und Belastung der transatlantischen Beziehungen zu nutzen. Der Machtapparat in Moskau hat dabei vor allem Deutschland als wichtige Schwachstelle in Europa identifiziert und massiv Ressourcen in die Beeinflussung der deutschen öffentlichen und politischen Meinung investiert. Ein Vorgehen, das im Kontext der Bundestagswahl weniger wirksam war als beim Erhalt einer russlandfreundlichen Haltung in der Elite und Gesellschaft, trotz wachsender russischer Aggressionen.

Realitätscheck: Aus Sicht der russischen Führung haben energie- und wirtschaftspolitische Handlungen immer geopolitische Implikationen. Auch das Handeln der deutschen Politik muss in einem geopolitischen Kontext mit sicherheitspolitischen Folgen betrachtet werden. Dies soll nicht bedeuten, dass Deutschlands Appeasement- und Wirtschaftspolitik gegenüber Russland den aktuellen Krieg verursacht hat. Doch aufgrund ihrer schwachen Reaktionen auf russische Provokationen und Aggressionen sowie die Erhöhung energiepolitischer Abhängigkeiten tragen verschiedene Bundesregierungen zumindest eine Mitverantwortung dafür, dass Wladimir Putin zur Überzeugung kam, diesen Krieg ohne gravierende Folgen beginnen zu können. Die Lehre, die im Kreml aus den deutschen und europäischen Reaktionen auf vorherige russische Handlungen gezogen wurden, führten zu der Annahme, dass mögliche Sanktionen auf einen schnellen und kurzen Krieg gegen die Ukraine eher schwach und zögerlich sein würden. Der Eindruck, dass bei den deutschen und europäischen Eliten Wirtschafts- und Energieinteressen gegenüber einer werteorientierten Außenpolitik dominieren, hat die russische Aggression eher befördert als verhindert. Schließlich hat das fehlende sicherheitspolitische Gewicht Deutschlands seine Verhandlungsoptionen gegenüber Moskau geschwächt mit dem Resultat, dass Putin sicherheitspolitische Fragen nur an die US-Führung adressiert. Damit wurde die EU insgesamt gegenüber Moskau geschwächt.

Die kooperative, auf stille Diplomatie und ökonomische Verflechtung setzende Politik Deutschlands gegenüber Russland ging mit einer Unterschätzung der Geopolitik einher. Diese Unterschätzung verband sich mit einer Tendenz, die imperiale Sprache des Kremls nicht ausreichend ernst zu nehmen und die meist im Gewand der Geschichts- und Identitätspolitik gesendeten geopolitischen Botschaften und Drohungen zu vernachlässigen. Die Ziele des Kremls gegenüber der Ukraine sind radikalisierte Leitgedanken des Konzepts der „Russischen Welt“ und der weitgehend damit kompatiblen und speziell auf die Süd- und Südostukraine angewandten Neurussland-Ideologie. Die imaginierte Gemeinschaft der „Russischen Welt“ war eine „autoritäre Identitätsbehauptung“ , die nahtlos überging in die von Putin schon seit mehreren Jahren verbreitete These, Russen und Ukrainer seien „ein Volk“. In seinem Aufsatz „Über die historische Einheit von Russen und Ukrainern“ hat Putin seine These weiter eskaliert und de facto den Ukrainern das Recht abgesprochen, einen Staat zu haben beziehungsweise eine Nation zu sein. Es ist bezeichnend, dass eine deutlich vernehmbare Reaktion Deutschlands und seiner westlichen Partner auf diese geschichtspolitische Kriegserklärung ­ausgeblieben ist.

Nicht nur, aber auch aufgrund der Nichtbeachtung dieser Konzepte haben Deutschland und seine westlichen Partner gleichzeitig die damit verbundenen Handlungen und Pläne des Machtapparats im Kreml samt ihrer Sprengkraft verkannt. Das gilt beispielsweise für die mit der Ideologie der „Russki Mir“, der sogenannten Russischen Welt verknüpfte Landsleute-Politik. Mit dieser haben sich die Regierenden in Moskau in den letzten Jahren eine Selbstermächtigung verschafft – angeblich zum Schutz der bewusst weit und nebelhaft definierten russischsprachigen Landsleute in Nachbarstaaten des „nahen Auslands“ wie Georgien und insbesondere anschließend in der Ukraine. nicht nur mit diplomatischen und de facto hybriden Mittel samt „Passportisierung“, sondern auch militärischen Mitteln zu intervenieren, wenn die „Landsleute“ Russlands angeblich verfolgt oder in ihren sprachkulturellen Rechten bedroht sind.

Gleichzeitig beförderte die unzureichende Fähigkeit oder der Wille, die von Moskau gesendeten geopolitischen Signale lesen zu können oder zu wollen, einen Mangel an Präzision bei der Analyse der Ziele des Kremls gegenüber der Ukraine: So war und ist die Besetzung des Donbass nie das entscheidende Ziel der russischen Aggression gegen die Ukraine gewesen; die Aggression im Donbass 2014 war stets nur Auftakt und Vorwand für das eigentliche Ziel Moskaus, nämlich mit dem geschichtspolitischen Verweis auf die „Neurussland“-Ideologie und den damit verbundenen geopolitischen Anspruch auf die Gebiete der nördlichen Schwarzmeerregion eine Landbrücke zwischen Russland und der annektierten Krim zu schlagen und zugleich die Voraussetzung zu schaffen, die Ukraine durch weitere Besetzung des Südens von ihren Häfen bzw. Seehandelsrouten abzuschneiden und den ukrainischen Staat dysfunktional zu machen. Unzureichende geopolitische Analyse auch der deutschen Politik führte zu dem Fehlschluss, dass man sich hinsichtlich der Konfliktlösung zunächst ganz auf den Donbass konzentrieren müsse und die mit der Konfliktursache, nämlich der Annexion der Krim verbundenen Probleme später lösen und damit aufschieben könne.

So wurde auch die Schlüsselrolle der Ukraine für die gesamte europäische Sicherheit übersehen. Denn an der ukrainischen Schwarzmeerküste und im Asow-Gebiet überschneiden sich die Ziele des Kremls gegenüber der Ukraine und dem Westen. Die massive Schwächung der Ukraine durch die schleichende oder offene Okkupation ihrer souveränen Gewässer im Asowschen und nordwestlichen Schwarzen Meer sowie die Aggression gegenüber ihren südöstlichen Gebieten (Donbass) bildeten seit 2014 den Hauptbaustein in einem größeren imperialen Design: nämlich der Stärkung der hegemonialen Position Russlands an seiner Südflanke im Kaspischen und Schwarzen Meer. Sie bildet zugleich die Grundlage für Russlands Machtprojektion gegenüber der EU und NATO nicht nur am Schwarzen Meer, sondern auch auf dem Westlichen Balkan und Östlichen Mittelmeer. All dies führte zu massiven Spannungen am Schwarzen Meer, zu dessen Anrainern bzw. Einzugsgebiet fünf von sechs Staaten der Östlichen Partnerschaft gehören. Auch weil die Brisanz dieser Vorgänge in der Nachbarschaft nicht erkannt wurde, haben es Deutschland und seine Partner in der EU versäumt, insbesondere die mit der EU assoziierten Staaten Ukraine, Moldova und Georgien rechtzeitig auch sicherheitspolitisch zu stärken. Gleichzeitig hätte die NATO im Schwarzen Meer - etwa ausgehend und getragen von einem Verbund von NATO-Anrainerstaaten unter nationalen Flaggen - eine stärkere sicherheitspolitische Präsenz gebraucht, um auf die russische Politik angemessen zu reagieren.

Fazit: Die Annahme der deutschen Politik war lange Zeit, dass man wirtschafts- und energiepolitisch agieren und dabei die geopolitischen Folgen der eigenen Handlungen ausblenden konnte. Das ist jedoch mit einem Akteur, der in erster Linie geo- und sicherheitspolitisch denkt und agiert nicht möglich, da die eigenen Handlungen in einem anderen Kontext interpretiert werden. Gleichzeitig hat die russische Führung vor allem mit Blick auf die Ukraine versucht, deren Abtriften Richtung transatlantische Strukturen zu verhindern. Die Ignoranz dieses geopolitischen Wettbewerbs war maßgeblich dafür verantwortlich, dass deutsche und europäische Eliten den russischen Krieg gegen die Ukraine nicht sehen konnten oder wollten.

„Historische Verantwortung verbietet Russland-Kritik"

Hintergrund: Deutschlands Schuld an den Millionen von Opfern in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs ist ein historischer Fakt. Doch die deutsche Erinnerungskultur in Politik und Gesellschaft war und ist in Bezug auf die Folgen des Zweiten Weltkrieges für die nichtrussischen Staaten in Ostmittel- und Osteuropa noch immer unvollständig und ihre Wahrnehmung von alten Denkmustern geprägt. So bedeutete der Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 die Aufteilung Ostmitteleuropas und bildete damit den Höhepunkt eines Denkens in Einflusssphären, das die Staaten „Zwischeneuropas“ zu einem Raum mit Grenzen zweiter Klasse degradierte. Nicht nur in den baltischen Staaten und Polen, sondern auch in der Ukraine gilt der Pakt bis heute als traumatisches Ereignis. In der Ukraine, die nicht Mitglied der NATO ist, war diese Erinnerung mit der Angst verbunden, dass sich Deutschland und Russland über ihren Kopf hinweg und zu ihren Lasten einigen könnten, was aus ukrainischer Sicht mit der russisch-deutschen Pipeline-Politik bestätigt wurde. Die Verdrängung dieser Ereignisse und dadurch lückenhafte Erinnerung sowie die bis heute in Teilen der deutschen politischen und wirtschaftlichen Eliten erkennbare Kontinuität eines „Zwischeneuropa“-Denkens dürfte auch ein Grund dafür sein, dass die Sicherheitsinteressen der zwischen Russland einerseits und der EU und NATO andererseits gelegenen Nachfolgestaaten der UdSSR nicht ausreichend ernst genommen wurden. Das ist umso erstaunlicher, da in den 1990er Jahren sowohl die damalige Bundesregierung als auch weite Teile der Opposition die Osterweiterung gerade in der Erkenntnis vorantrieben, dass Staaten wie Polen nie mehr zum Spielball zwischen Deutschland und Russland werden dürften.

Realitätscheck: Die weitgehende Verdrängung des Fakts, dass die Sowjetunion aus verschiedenen Völkern bestand, die wie die Russen große Opfer zu verzeichnen hatten, ist problematisch. Deutsche Schuld und Verantwortung müssen nicht nur gegenüber Russland empfunden werden, sondern auch gegenüber den postsowjetischen Nachfolgestaaten wie der Ukraine, Belarus und Moldawien. Gerade die Ukraine, die vollständig unter deutsche Besatzungsherrschaft geriet und zum Hauptschauplatz des Holocaust wurde, hatte massive menschliche Verluste und Zerstörungen zu beklagen. Eine auf einem Schuldkomplex basierende Nachsicht gegenüber der russischen Politik, die mit einer historischen Fixierung auf Russland als ehemalige Führungsmacht in der Region („Russia first“) einhergeht, darf es nicht geben. Zumal diese immer wieder von der Desinformationspolitik des Kremls geschickt für eigene Zwecke genutzt wurde. Vor diesem Hintergrund können auch militärische Handlungen Russlands gegenüber seinen Nachbarstaaten nicht toleriert werden und ebenso wenig darf das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und militärische Unterstützung verweigert werden.

Im Gegenteil: Das Vermächtnis aus Deutschlands Schuld am Zweiten Weltkrieg wird nicht nur mit der Formel nie wieder Krieg in Europa, sondern auch nie wieder Auschwitz umschrieben. Dies bringt Deutschland in eine besondere Verantwortung gegenüber der Ukraine, gegen die Russland einen brutalen Angriffskrieg führt, der auf die Auslöschung der ukrainischen Identität abzielt. Hier nicht oder nur zögerlich zu Handeln und dies mit dem Einsatz für Frieden in Europa und der Verantwortung gegenüber Russland zu begründen, wird der eigenen Verantwortung nicht gerecht. Indem die russische Führung die Ukraine als Staat und Gesellschaft vernichten möchte und das eigene Land in einen totalitären Staat verwandelt, hat Deutschland eine besondere (historische) Verantwortung, diesen Entwicklungen entschieden entgegenzutreten und dabei auch eine Führungsrolle in Europa zu übernehmen. Nie wieder Faschismus in Europa bedeutet auch, gegen die faschistischen Tendenzen in der aktuellen russischen Politik vorzugehen.

Fazit: Deutschland hat jahrzehntelang seine unbestrittene Schuld an Millionen von sowjetischen Opfern im Zweiten Weltkrieg in erster Linie auf Russland fokussiert, dabei jedoch postsowjetische Staaten mit hohen Opferzahlen wie die Ukraine und Belarus weitestgehend ausgeblendet. Es braucht ein differenziertes Verständnis dafür, dass verschiedene Völker innerhalb der Sowjetunion unter dem deutschen Angriffskrieg gelitten haben und dass das Unrecht von damals nicht mit dem aktuellen russischen Unrecht gegen die Ukraine aufgewogen werden kann.

 

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Das deutsche Rollenverständnis

Deutschland als wirtschaftliche Mittelmacht in Europa hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges vor allem durch Zurückhaltung und Konzentration auf wirtschaftliche Interessen ausgezeichnet. Eine Position, die während des Kalten Krieges durch Deutschlands Rolle als Frontstaat zum Ostblock nachvollziehbar war, die jedoch nach der Wiedervereinigung und besonders ab den 2000er Jahren mit dem Aufstieg der Bundesrepublik zur zentralen Wirtschaftsmacht in Europa immer weniger vertretbar war. Diese deutsche Zurückhaltung in der Sicherheitspolitik und die Konzentration auf eine reine Vermittlerrolle hat die EU immer wieder geschwächt. Zwar hat die Bundesregierung in der Finanzkrise 2008/2009 Führung übernommen, jedoch eher unter Berücksichtigung nationaler Interessen und weniger von gemeinschaftlichen. So handelten zum Beispiel Griechenland und Portugal durch den erzwungenen Verkauf ihrer strategischen Infrastruktur an China kaum im gesamteuropäischen Interesse. Die Bundesregierung muss zwar nationale Interessen des Landes definieren und verteidigen, diese jedoch auch mit europäischen Partnern abstimmen. Geschieht dies nicht, wird die Formel „nie gegen die Interessen Europas zu handeln“ zur leeren Phrase. Dabei sollte Deutschland auch im Umgang mit Russland und der Ukraine eine Führungsrolle einnehmen und diese ebenso mit den ostmitteleuropäischen Staaten absprechen. Die EU ist dabei keine Institution, die aus sich heraus in außen- und sicherheitspolitischen Krisensituationen agiert. Es sind die Mitgliedstaaten, die die EU handlungsfähig machen. Unzureichende Führung wie wir sie in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn unter Olaf Scholz beobachten konnten, führt wie aktuell bestenfalls zu einer Führung durch die USA. Ohne diese hätte die Ukraine keine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Klar ist: Aktuell kann kein anderes EU-Land die Lücke schließen, die eine fehlende deutsche Führung hinterlässt.

Deutschland nutzt dabei die EU oft dann, wenn es in seinen eigenen Interessen liegt. Will die Bundesregierung dagegen in bestimmten Krisensituationen nicht selber aktiv werden, versteckt sie sich nicht selten hinter der EU. Fehler, die etwa im „nationalen Interesse“ gemacht wurden, wurden immer wieder auf die EU als Institution geschoben. So hat der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel bei einem Gespräch mit Wladimir Putin 2015 zugesagt, die Nord Stream 2 Pipeline unter deutsche Gesetzgebung zu bringen, damit externe Akteure (wie die EU) keinen rechtlichen Zugriff darauf haben. Ziel war es, an der EU vorbei die Genehmigung der Pipeline durchzusetzen. Nach dem russischen Angriffskrieg begründete Gabriel seine damalige Unterstützung und den Verkauf von Gasspeichern an Gazprom mit der Liberalisierungspolitik der EU, die ihm keine andere Option gelassen hätte. Hier wird Verantwortung auf die EU abgeschoben, die ein nationaler Politiker hatte, indem er versucht hat, Projekte entgegen gesamteuropäischer Interessen durchzusetzen.

Im Rahmen des Normandie-Formats und der Minsker Verhandlungen hat die Bundesregierung eine Vermittlerrolle eingenommen. Dafür war es wichtig, eine gewisse Neutralität zu bewahren. Als sich jedoch abzeichnete, dass diese Abkommen so nicht umgesetzt werde konnten, hat es nicht mehr ausgereicht, an einem festgefahrenen Format festzuhalten. Die Anpassung der eigenen Rolle und der bestehenden Formate an sich verändernde Realitäten ist eine wichtige Voraussetzung, um auf Krisen angemessen zu reagieren. Das Festhalten an existierenden Formaten aus Alternativlosigkeit reicht nicht nur nicht aus, sondern kann das eigene Handeln diskreditieren beziehungsweise die Politik feindlicher Akteure legitimieren. Es hilft einem Land wie Russland bei der Schwächung von Institutionen und Formaten sowie beispielsweise der Neuinterpretation der Abkommen. Die russische Führung schafft bevorzugt neue Formate, die sie eher dominieren und deren Regeln sie bestimmen kann. Beispiele sind das Astana Format zu Syrien und die trilaterale Plattform mit Armenien und Aserbaidschan nach dem 2. Karabach-Krieg 2020. Gleichzeitig umgeht sie damit internationale multilaterale Organisationen wie die UN und die OSZE. Somit entsprach das Normandie-Format dem russischen Interesse nach Exklusivität. Das Interesse erlahmte freilich, als Russland den eigentlichen Sinn des Formats erkannte: nämlich, dass durch die Präsenz Deutschlands und Frankreichs das Machtungleichgewicht zwischen Russland und der Ukraine ausgeglichen werden und so der Ukraine ermöglicht werden sollte, wichtige grundsätzliche politische Fragen auf Augenhöhe mit Russland zu besprechen. Umso wichtiger ist es, Prinzipien zu definieren, auf denen das eigene außenpolitische Handeln basiert und diese durchzuhalten. Diese Prinzipien sollten nicht dehnbar sein, sondern durch die Stärkung von multilateralen Institutionen und dem Festhalten an ­vereinbarten Abkommen unterfüttert werden.

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat das Ende der nach dem Kalten Krieg vereinbarten europäischen Sicherheitsordnung markiert und die Gestaltung einer neuen Sicherheitsarchitektur für Deutschland und Europa nötig gemacht. Nur wenige Tage nach Kriegsbeginn am 24. Februar proklamierte Bundes­kanzler Olaf Scholz eine „Zeitenwende“ und erkannte damit diese neue Realität an – ebenso wie das Versäumnis vorheriger Bundesregierungen, Deutschland sicherheitspolitisch auf potenzielle Bedrohungen vorzubereiten. Mit der Ankündigung eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für die Modernisierung der Bundeswehr hat die Bundesregierung erstmalig Russland als Gefahr für die deutsche Sicherheit anerkannt. Gleichzeitig muss dieses Vorhaben als Erkenntnis darüber gewertet werden, dass sich Europa nicht dauerhaft auf die USA verlassen kann und Deutschland mehr für seine eigene Sicherheit tun und zahlen muss. Doch bisher fehlt es an einer umfassenden Strategie, um auf die neuen Herausforderungen zu reagieren, die mit der russischen Aggression nur sichtbarer geworden sind. Putins Russland ist nicht nur eine Gefahr für die europäische Sicherheit, sondern auch für eine globale Ordnung, die auf internationalen Institutionen und Recht aufbaut.

Der Aufstieg Chinas zur globalen Macht einerseits und die innenpolitische Krise der USA andererseits verbunden mit ihrer Konzentration auf den Asien-Pazifik-Raum sowie einem Rückzug aus Regionen wie dem Nahen Osten eröffnen Handlungsräume für andere Akteure. Der überstürzte Rückzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan hat die Grenzen westlicher Macht aufgezeigt und Brüche und Schwächen im westlichen Bündnis offenbart. Auch das hat den Kreml motiviert, die Ukraine anzugreifen. Russland und ­China fordern die von den USA dominierte Ordnung mit ihren multilateralen Institutionen heraus und möchten eigene Normen setzen. In einer von Russland bevorzugten multipolaren Ordnung sollen Großmächte und transaktionale Verhandlungssysteme dominieren. Das bedeutet nicht das Ende des Multilateralismus, aber die Schwächung von offenen Märkten, die Stärkung von nationaler Souveränität in Wirtschaft und Sicherheit sowie von Ad-hoc-Verhandlungsformaten. Der Globalisierung in einem multilateralen Rahmen und der von den USA garantierten Friedensordnung in Europa hat Deutschland in den letzten Jahrzehnten sein Wirtschafts- und Wohlstandsmodell zu verdanken. Diese Ordnung wird von Russland aktiv bekämpft. Sein Krieg gegen die Ukraine schwächt das deutsche Wirtschaftsmodell weiter, das nicht nur auf offenen Märkten und funktionsfähigen globalen Versorgungsketten basiert, sondern auch auf billigem russischen Pipelinegas sowie weiteren günstigen Rohstoffen. Ein neues Modell ist noch nicht in Sicht, die kurzfristigen und mittelfristigen Anpassungskosten werden für Deutschland und Europa immens sein, mit einer teilweisen Deindustrialisierung in energieintensiven Bereichen.

Um Sicherheit und Wohlstand zu garantieren, bedarf es mehr europäischer Souveränität und europäischer Führung bei Krisen in der Nachbarschaft und über diese hinaus. Hierfür braucht es den Instrumentenkasten, um auf Kriege und Krisen reagieren zu können sowie den Abbau von Verletzlichkeiten beziehungsweise Abhängigkeiten. Das Festhalten an alten Rollenbildern und Annahmen verzögert nur die Anpassung an diese neuen Realitäten und erhöht die Kosten kontinuierlich. Hätte Deutschland bereits aus der russischen Aggression gegen die Ukraine 2014 die richtigen Schlüsse gezogen und seine Energieabhängigkeit von Russland sukzessive verringert, anstatt sie zu erhöhen, dann wären die heutigen Kosten und das Erpressungs­potenzial des Kremls viel geringer.

Mit Blick auf die Ukraine bedeutet das, sie auch über den Krieg hinaus so mit Waffen auszustatten, dass der Preis für zukünftige Angriffe durch Russland zu hoch wird. Die Bundesregierung leistet bereits Beachtliches sowohl bei der finanziellen Unterstützung und Stabilisierung als auch bei der militärischen Ertüchtigung der Ukraine, was unter anderem durch die Lieferung des Iris-T-Raketenabwehrsystems unterstrichen wurde. Gleichwohl könnte sie sich im europäischen Rahmen für großzügigere Hilfen einsetzen, um die Funktionsfähigkeit des ukrainischen Staates im Krieg längerfristig abzusichern. Bezüglich der Militärhilfe wäre eine proaktivere und strategischere sowie vorausschauende Rolle Deutschlands wünschenswert, damit die Ukraine weitere Gebiete befreien kann. Im Lichte der mittelfristig notwendig werdenden Umstellung der ukrainischen Verteidigung auf westliche Waffen und Munition gehören Debatten um die Lieferung westlicher Schützen- und Kampfpanzer eher zu den kleineren Fragen, die sowieso zugunsten der Ukraine beantwortet werden sollten. Zu viel Zögerlichkeit in diesem Bereich erhöht eher die Kosten durch zu erwartende weitere russische Aggressionen. Nur eine russische Niederlage in der Ukraine kann zu einem politischen und gesellschaftlichen Wandel in Russland führen. Westliche Staaten, allen voran Deutschland, haben es in der Hand, die Ukraine finanziell und militärisch so auszustatten, dass sie nicht nur diesen Krieg gewinnen, sondern auch als Staat mit eigener Identität überleben kann. Solch eine westliche Politik muss mit einer funktionsfähigen nuklearen Abschreckung verbunden werden und der klaren Kommunikation in Richtung des russischen Regimes, welche politischen und ökonomischen Kosten es bei der Verwendung taktischer Nuklearwaffen gegen die Ukraine zu erwarten hätte.

 

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Ausblick und Handlungsempfehlungen

Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die Grundannahmen der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erschüttert. Während spätestens und für alle sichtbar seit 2012 ein grundlegender Wandel russischer Politik gegenüber Deutschland und der EU stattfand und obwohl der Kreml seit 2014 nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen den Westen einen (hybriden) Krieg führte, so haben deutsche Wirtschafts- und Politikeliten erst am 24. Februar 2022 akzeptiert, dass eine neue Epoche begonnen hat. Die von Olaf Scholz angekündigte „Zeitenwende“ mit all ihren Implikationen ist somit eine im Nachhinein erfolgte Anpassung deutscher Politik an bestehende Realitäten. Diese braucht jedoch auch eine konzeptionelle und strategische Unterfütterung, die bisher fehlt. Die Neudefinition deutscher Interessen und des eigenen Rollenverständnisses ist eine zentrale Aufgabe für die aktuelle Bundesregierung. Diese muss sie den neuen Realitäten anpassen, dabei internationale Prinzipien berücksichtigen, dem Völkerrecht wieder zur Geltung verhelfen sowie multilaterale Institutionen und Partnerschaften stärken. In diesem Zusammenhang hat Bundesaußenministerin Annalena Baerbock zu Recht den Grundsatz, wonach Werte und Interessen „kein Gegensatz, sondern zwei Seiten derselben Medaille“ seien, zu einer Grundposition ihrer Außenpolitik gemacht. Nun könnte diese Prämisse am Beispiel einer zu formulierenden Strategie etwa für die Schwarzmeerregion konkret ausbuchstabiert werden. Gleichzeitig muss langfristig ein politischer und gesellschaftlicher Wandel in Russland unterstützt werden, der mit hohen Kosten für alle beteiligten Akteuren verbunden ist.

Die in Deutschland lange vorherrschende Überzeugung von „Russia first“ sollte von Integrations-Kooperationen mit Staaten in der östlichen Nachbarschaft abgelöst werden, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Markwirtschaft anstreben. Während die ÖP auf eine Transformation ohne Integration gesetzt hat, sollte diese neue Politik auf Reformen und Transformation mit dem Ziel einer Integration in die EU abzielen. Die Ausdehnung des europäischen Demokratie- und Rechtsraums in die östliche Nachbarschaft liegt im deutschen und europäischen Interesse. Die Berücksichtigung russischer Befindlichkeiten zu Lasten der gemeinsamen Nachbarschaft mit der EU widerspricht diesem. Dabei sollte ein politischer Wandel in Russland selbst angestrebt werden, der über erfolgreiche Demokratisierung und Reformen in anderen postsowjetischen Staaten befördert wird. Der Ukraine kommt aufgrund ihrer Größe, Lage, Geschichte und dynamischen Zivilgesellschaft eine Schlüsselrolle in diesem Systemkonflikt mit Russland zu. Deshalb sollte die deutsche Politik mittelfristig auf eine „Ukraine first“-Politik setzen, um deren Überleben als Staat nicht nur abzusichern, sondern ihre Reform- und EU-Integrationspolitik als ein zentrales Ziel deutsche Außenpolitik im europäischen Interesse zu fördern.

Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine braucht die Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik der EU ein Update. Die EU benötigt eine Strategie zu Stärkung ihrer Nachbarschaft in Osteuropa, auf dem westlichen Balkan und am Schwarzen Meer. Hierbei sollte Deutschland eine wichtige Rolle übernehmen. Es geht darum, zu einem Zeitpunkt, in dem Russland massiv in der Ukraine militärisch gebunden ist und nur begrenzte Ressourcen für andere Regionen und Konflikte hat, insbesondere in der erweiterten Schwarzmeerregion die Konnektivität und Sicherheit von Handelsrouten zu stärken und die Resilienz der Partner zu fördern. Dazu zählt, mit Blick auf die Versorgung der EU mit Öl und Gas, die Förderung von Konnektivität zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer sowie mit Zentralasien. Es gilt, Initiativen zu fördern, die in der Region wichtige, aber derzeit schwierige Partner wie Georgien nicht von Europa weg zu einem „dritten Weg“ oder in einen russischen Einflussraum abdriften lassen. Hierbei müssen die EU und Deutschland aktiver werden und in diesen Ländern Reformprozesse in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit, Medienfreiheit oder Wahlrecht mit einer konsequenteren Konditionalität fördern. Dabei sollte stets die Zugehörigkeit von Ländern wie Georgien und Armenien zu Europa betont werden. Aufgrund ihrer geografischen Lage ist die Integration der Republik Moldau im Kontext der Integration der Ukraine eine prioritäre Aufgabe.

Die Idee vom „Wandel durch Annäherung“ sollte sich stärker auf die russische Gesellschaft als auf die russischen Führungseliten beziehen. Da es aktuell kaum möglich ist, Kooperationen mit der russischen Zivilgesellschaft einzugehen, sollte die Bundesregierung russische Regimegegnerinnen und -gegner unterstützen, die ihr Land aus politischen Gründen verlassen mussten und in Europa versuchen, Fuß zu fassen. Diese sollten darin unterstützt werden, eine russische Vision für ein friedliches Russland in Europa zu entwickeln und damit einen Beitrag zur Aufarbeitung und Überwindung der imperialen und kolonialen Vergangenheit ihres Landes zu leisten. So könnten mit ihnen etwa Plattformen in Wissenschaft, Bildung, Medien und Politikberatung aufgebaut werden, um in Europa Konzepte für ein neues, demokratisches Russland zu entwickeln und auf den russischen Sprach- und Informationsraum zu wirken. Dies wäre eine Politik des nachhaltigen Wandels. Dagegen wirkt eine immer wieder geforderte, restriktive Visa-Politik Reformen in Russland eher entgegen. Eine pauschale Aufnahme russischer Kriegsdienstverweigerer sollte dabei dennoch nicht erfolgen.

Frieden und Stabilität in Europa sind unter Putins Regime nicht mit, sondern nur gegen Russland möglich. Nur die NATO-Mitgliedschaft garantiert Sicherheit für ihre Mitgliedstaaten. Die Fähigkeit zur militärische Abschreckung gegenüber Russland ist eine wichtige Sicherheitsgarantie für Deutschland innerhalb der NATO. Eine funktionierende Abschreckung ist ein zentrales Signal des Westens an die russischen Eliten: Verstehen diese, dass über den Krieg gegen die Ukraine hinausgehende Aggressionen auf entschiedenen Widerstand der NATO stoßen und dass der massive militärische Aufwand in der Ukraine zu einer Schwächung russischer militärischer Fähigkeiten führt, könnte dies auch zur Eindämmung des aktuellen Krieges führen. Von besonderer Bedeutung ist dabei eine glaubwürdige nukleare Abschreckung: Sie ist die derzeit wirksamste Garantie gegen Wladimir Putins Drohungen mit einem taktischen Nuklearschlag.

Deutschland braucht einen Kulturwandel weg von einer bürokratischen hin zu einer strategischen Außen- und Sicherheitspolitik. Die Bundesregierung sollte die „Zeitenwende“ sicherheitspolitisch und strategisch mit Konzepten füllen. Diese Konzepte müssen jedoch mit Instrumenten unterfüttert werden. Die Verantwortlichen in Berlin sollten im Rahmen der NATO mit Vorschlägen zur Stärkung der eigenen Sicherheit gegenüber Russland antreten, zumal Deutschland mit Blick auf die sicherheitspolitischen Herausforderungen des Bündnisses allein durch seine geografische Lage in der Mitte Europas eine Schlüsselrolle zukommt. So muss die NATO auf die aktuelle Bedrohung angemessen reagieren, indem sie auf die seit mehreren Jahren von Russland betriebene Aufstockung konventioneller und ­nuklear bestückbarer Kurz- und Mittelstreckenraketen adäquat reagiert. Dabei sollte Deutschland sich dafür einsetzen, dass die NATO der Schwarzmeerregion dieselbe Aufmerksamkeit wie dem Ostseeraum beziehungsweise Nordeuropa schenkt, da die russische Annexion und Militarisierung der Halbinsel Krim eine ähnliche Bedrohung für Europa darstellt wie die Aufrüstung der russischen Enklave Kaliningrad.

Es sollten dauerhaft mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für eine Modernisierung der Bundeswehr und deren Handlungsfähigkeit in Strukturen der NATO in Europa ausgegeben werden. Die NATO-Norderweiterung und die Modernisierung von Waffensystemen im Kontext des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine eröffnen die Möglichkeit, die massiven deutschen Sicherheitsinvestitionen gemeinsam mit Partnerländern zu tätigen. Deutschland könnte somit zentraler Bestandteil eines europäischen Sicherheitssystems mit den angrenzenden NATO-Partnern in der Ost- und Nordsee sowie in Mitteleuropa werden, auch mit Auswirkungen auf die Schwarzmeerregion. Durch das Sondervermögen wird Deutschland zum drittwichtigsten europäischen Sicherheitsakteur nach Großbritannien und Frankreich. Diese Mittel, im Sinne eines gesamteuropäischen Sicherheitsgewinns einzusetzen, ist eine strategische Aufgabe und würde auch der Forderung nach mehr Burden Sharing mit den USA entsprechen.

Eine völlige Isolation Russlands ist langfristig nicht zielführend. Eine kontrollierte wirtschaftliche und technologische Verflechtung ist im deutschen und europäischen Interesse. Sollte Russland vollständig von chinesischer Technologie abhängen und sich vom globalen Banken- und Finanzsystem infolge der westlichen Sanktionen abkoppeln, schwinden die Einfluss- und Informationsmöglichkeiten. Wie das Beispiel der Sanktionierung Irans zeigt, führt eine vollständige Isolation eines autoritären Staates nicht unbedingt zu einem Politikwechsel. Im Gegenteil, es stärkt die eher isolationistisch denkenden Sicherheitseliten und schwächt den liberalen Teil der Eliten und Gesellschaft. Dennoch müssen Abhängigkeiten gegenüber Russland abgebaut und den Machthabern in Moskau die Möglichkeit genommen werden, Energie als Waffe gegenüber europäischen Staaten und ihren östlichen Nachbarn einzusetzen. Somit dient die Integration der Energie- und Stromnetze zwischen den EU-Mitgliedstaaten und den an Integration interessierten östlichen Nachbarstaaten einer Stärkung der Energiesicherheit in Europa. Gas- und Öllieferungen sind ein wichtiges Einflussmittel korrupter Eliten, wie auch das Beispiel Ungarn zeigt. Hier bedarf es gesamteuropäischer Regeln, um diese Möglichkeiten zu minimieren. Die energiepolitische Verflechtung der EU mit der Ukraine und anderen Staaten der östlichen Nachbarschaft im Rahmen des Green Deal sind ein Wirtschafts-, Integrations- und Sicherheitsprojekt.

Die NATO sollte im Sinne eines modifizierten doppelten Ansatzes die notwendige Stärkung ihrer militärischen Fähigkeiten mit der Bereitschaft verbinden, Angebote zur Kooperation im beiderseitigen Sicherheitsinteresse (vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen, Transparenz, Abrüstung und Rüstungskontrolle) zum Spannungsabbau mit Russland und der postsowjetischen Region wieder aufzugreifen. Trotz dieses massiven Antagonismus mit Russland, sollten keine Versuche unterbleiben, mit der russischen Führung über vertrauensbildende Maßnahmen zu sprechen. Oberstes Ziel muss aktuell die Beendigung des Krieges gegen die Ukraine sein. Russland muss sich aus den besetzten Gebieten zurückziehen und fundamentale Prinzipien des Völkerrechts wie die Akzeptanz der territorialen Integrität und Souveränität seiner Nachbarn respektieren.

Deutschland sollte sich stärker als geo- und sicherheitspolitischer Akteur definieren und gleichzeitig multilaterale und auf dem internationalen Recht basierende Institutionen auch durch mehr Ressourcen stärken. Damit verbunden ist die Bereitschaft, stärker im europäischen Rahmen Friedenseinsätze in der Nachbarschaft und darüber hinaus zu organisieren und Institutionen zur Verfolgung von Kriegsverbrechen sowie gegen internationale Korruption (Schwerpunktstaatsanwaltschaften) personell und finanziell zu stärken. Eine wertegeleitete Außenpolitik schließt auch mit undemokratischen Staaten pragmatische Partnerschaften nicht aus. Doch dabei darf es nicht zu Kompromissen und Appeasement kommen wie in der Vergangenheit mit Russland, die das Völkerrecht und damit die regelbasierte Ordnung untergraben. Die Absicherung des europäischen Rechts- und Demokratieraums nach innen und dessen Ausdehnung nach außen bedürfen einer proaktiven und strategischen deutschen und EU-Außen- und Sicherheitspolitik sowie eines erweiterten Instrumentenkastens, der friedenschaffende Maßnahmen umfasst.

Zwar muss es das Ziel bleiben, Russland langfristig in Systeme kollektiver Sicherheit zu integrieren und vertrauensbildende Maßnahmen zu vereinbaren. Solange das aktuelle russische Regime jedoch gegensätzliche Vorstellungen von europäischer und globaler Sicherheit hat, Gewalt als Mittel von Interessendurchsetzung nutzt und in Einflusssphären denkt, kann es keine kooperative Sicherheit geben. Umso wichtiger ist es, die bestehenden Institutionen zu stärken und Russland nicht die Dominanz über Konflikte und Regionen in Europa und seiner Nachbarschaft zu überlassen. Neben der Stärkung der Rolle der NATO im östlichen Europa sollte die EU deshalb auch stärkere Sicherheitskomponenten (Vorgehen gegen Desinformation und Korruption, Stärkung gesellschaftlicher Resilienz und von Sicherheitsinstitutionen) erhalten. Außerhalb der NATO gibt es keine Sicherheitsgarantien. Umso wichtiger ist die Bereitschaft von EU- und NATO Staaten, an Partnerländer wie die Ukraine Waffen zur Selbstverteidigung und Abschreckung zu liefern. Es braucht ein radikales Umdenken über Sicherheit in Europa. Dabei sollten Putins Russland keine Einflussmöglichkeiten gegeben werden und Partnerländer, die nicht Teil der NATO sind, sowohl in ihrer militärischen als auch zivilen Resilienz systematisch gestärkt werden.

Eine zentrale Lehre aus der deutschen Ostpolitik der letzten 20 Jahre ist, dass Deutschland es sich im Interesse seiner eigenen Sicherheit nicht mehr leisten kann, eine Beschwichtigungspolitik gegenüber Russland zu betreiben. Es braucht politische Verantwortung, um einen grundlegenden Wandel in der deutschen Russland- und Osteuropapolitik herbeizuführen. Es liegt auch in der Verantwortung der deutschen Politik, diesen Wandel der Gesellschaft zu erklären und diesen trotz Kritik strategisch zu unterfüttern und durchzuhalten. Gleichzeitig bedarf es deutscher Führung in Europa, um die Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik zu einem relevanten Instrument der EU in einem neuen geo- und sicherheitspolitischen Kontext zu machen und auf Russlands Aggression angemessene Antworten zu finden. Trotz einiger positiver Veränderung in der deutschen Politik ist diese Führung bisher noch nicht ausreichend zu erkennen. Ein Umstand, der Europa bei der Bewältigung globaler Herausforderungen schwächt.

Bibliografische Angaben

Meister, Stefan, and Wilfried Jilge. “Nach der Ostpolitik.” German Council on Foreign Relations. December 2022.

DGAP Analyse Nr. 6, Dezember 2022, 25 S.

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