Kommentar

15. Apr. 2019

Israel am Scheideweg

In Netanjahus neuer Regierungszeit stehen Israels innere Demokratie und die Zwei-Staatenlösung auf dem Spiel

Benjamin Netanjahu und sein Likud haben zwar die Parlamentswahl gewonnen, sind aber zur Regierungsbildung auf ultrarechte Parteien angewiesen. Netanjahu braucht sie auch, um gesetzlich seine Immunität gegen drohende Korruptionsverfahren zu sichern. Das macht ihn erpressbar durch potenzielle Koalitionspartner, die Israels Demokratie abbauen und die Annexion des Westjordanlands einleiten wollen. Die internationale Gemeinschaft, Europa und Deutschland müssen Strategien entwickeln, um dem entgegenzuwirken.

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Nie zuvor, seit Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und der rechtsnationale Likud nach 2009 die Wahlen gewonnen haben, ging es um soviel und nie war der Ausgang zwischen den Herausforderern so knapp. Nach seinem Wahlsieg mit 36 von 120 Sitzen über das Parteienbündnis Kahlon-Lavan–Blau-Weiß unter Benny Gantz kann der Premierminister, der bereits seit 2015 mit einem Spektrum aus rechts-nationalen Parteien regiert, eine neue Regierung bilden. Seine Ausgangslage dafür hat sich jedoch entscheidend verändert. Um an der Macht zu bleiben und drohende Gerichtsverfahren wegen Korruption, Bestechung und Betrug abzuwenden, wird Netanjahu vermutlich die Demokratie weiter abbauen und die Annexion des Westjordanlandes einleiten.

Ein Referendum über Netanjahu

Die Wahl war ein Referendum über Netanjahus Verbleib im Amt, und der wiedergewählte Premierminister wird vor allem ein Anliegen bei seiner neuen Regierungsbildung verfolgen: Er will den drohenden Gerichtsverfahren wegen Korruption, Bestechung und Betrug entgehen, die Generalstaatsanwalt Avichai Mandelblit im Februar 2019 angekündigt hatte und nach einer Anhörung im Juli mit großer Wahrscheinlichkeit einleiten wird. Damit dem Premierminister dies gelingt, braucht er in der neuen Legislaturperiode ein Gesetz, das ihm Immunität gewährt. Dies hat erheblichen Einfluss auf seinen Zugang auf mögliche Koalitionspartner im rechten Parteienspektrum. Nicht nur das: Es macht ihn trotz seiner deutlichen Wiederwahl erpressbar.

Netanjahus Koalitionskandidaten: die zersplitterte Rechte

Bei seiner Koalitionsbildung kann Netanjahu sich gleich auf ein ganzes Spektrum von rechts-nationalen Parteien stützen, denn seit der vorangegangenen Wahl 2015 hat sich das rechte Parteienspektrum sehr zersplittert: Statt drei Parteien rechts vom Likud traten nunmehr sechs an, die beiden Parteien aus dem ultraorthodoxen Spektrum – United Thora und Shas – nicht einmal eingerechnet.

Netanjahu war klar, dass dieses Parteienkaleidoskop für ihn und Likud das Zünglein an der Waage für die Regierungsbildung sein würde. Dementsprechend hatte er die rechte Parteienlandschaft bereits vor der Wahl eingestimmt: In einem Kraftakt sorgte er zunächst persönlich dafür, dass selbst Parteien wie die rechtsextreme Otzma Yehudit – eine Nachfolgepartei der in Israel und der Europäischen Union verbotenen Kach-Partei – in ein vereinigtes rechtes Parteienbündnis integriert wurden. Am Tag vor der Wahl gelang es ihm dann mit dem Schlachtruf, er werde eine Teil-Annexion des Westjordanlandes einleiten, viele Stimmen der kleinen rechten Parteien zurückzugewinnen. Am Ende kamen drei der ursprünglich sechs Parteien – Avigdor Liebermans Yisrael Beiteinu, die Vereinigte Rechte unter Bezalel Smotrich und Mosche Kahlons Kulanu – über die Sperrklausel von 3,25 Prozent. Selbst die sogenannte Neue Rechte der bekannten amtierenden Minister Ayelet Shaked und Naftali Bennett schaffte den Sprung in die Knesset nicht.

Neues Rechtsbündnis setzt Demokratie unter Druck

Auch wenn diese Mehrheitsverhältnisse ein Weiterregieren Netanjahus sehr wahrscheinlich machen, so werden sie zugleich Israel grundlegend verändern. Dabei geht es um nicht weniger als die Veränderung der israelischen Demokratie, denn Netanjahus potentielle Bündnispartner werden ihre eigenen Bedingungen durchsetzen wollen. Dass Netanjahu seine Macht auf jeden Fall erhalten und seine gerichtliche Verfolgung verhindern will, werden sie als Hebel nutzen.

Das zentrale Projekt eines neuen Rechtsbündnisses unter Netanjahu wird dabei der weitere Umbau von Israels liberaler Demokratie sein. Vor allem der Oberste Gerichtshof ist den Rechten ein Dorn im Auge. Dieser gilt als ein letzter Garant für Rechtsstaatlichkeit und Liberalismus und hat in Fragen von Minderheiten, wie zum Beispiel über den Umgang mit Flüchtlingen, und auch im System der „checks und balances“ wegweisende Urteile getroffen. 

Noch in der Woche vor der Wahl hatte Bezalel Smotrich deutlich gemacht, dass seine Vereinigte Rechte Partei sich einer Koalition mit Netanjahu verweigern würde, wenn das sogenannte „Override“-Gesetz nicht binnen 60 Tagen nach der Regierungsbildung verabschiedet würde: Dieses Gesetz soll der Knesset erlauben, Urteile des Gerichtshofes zu überstimmen und zu revidieren. 

Das „Override“-Gesetz wäre das dritte große Vorhaben, mit dem der Charakter des demokratischen jüdischen Staates fundamental verändert wird. Im Jahr 2018 wurde bereits das Nationalstaatsgesetz beschlossen, welches jüdisches Recht über die Rechte von Minderheiten stellt und damit den Gleichheitsgrundsatz relativiert. Zwei Jahre davor erfolgte das sogenannte NGO-Gesetz, das die Rechte der zivilgesellschaftlichen Organisationen beschränkt. 

Wahlkampagne oder Kurswechsel? Die Annexion des Westjordanlands

Brisant wird auch die Debatte über die Zukunft des Westjordanlandes und damit der Zwei-Staatenregelung: Netanjahus Ankündigung der Annexion der sogenannten „Area C“, die einen großen Teil des Westjordanlandes ausmacht, kann sicher nicht als Wahlkampfunfall abgetan werden. Gerade weil er selbst in seiner eigenen Partei bisher als einer der wenigen Gegner einer solchen Annexion galt und immer für ein Festhalten am Status quo war, muss dies als gefährlicher Kurswechsel seiner bisherigen Strategie angesehen werden.

Die nun potentiellen Koalitionspartner Netanjahus hatten sich hingegen im Wahlkampf einen Wettlauf um die radikalste Forderung nach der Annexion des Westjordanlands – im israelischen Sprachgebrauch Judäa und Samaria – geliefert. Garniert waren diese Forderungen mit dem Ruf nach dem „Austausch der arabischen Bevölkerung“ und einem „Wiederaufbau des dritten Tempels“, wie etwa bei Yisrael Beiteinu, Zehut und der Vereinigten Rechten.

Der mögliche Deal: Immunität gegen Annexion

Nach der Wahl wird die Rechte Netanjahu an seinen Ankündigungen messen. Bezalel Smotrich, der Führer der Vereinigten Rechten Partei, hatte dafür bereits vor der Wahl einen möglichen Deal ins Spiel gebracht: Netanjahus Immunität gegen die Annexion des Westjordanlandes. Da die Abwendung der drohenden Klageverfahren entweder durch ein Immunitätsgesetz oder auf anderem Wege für Netanjahu höchste Priorität hat, ist davon auszugehen, dass es bei den Koalitionsverhandlungen mit den rechten Parteien genau um diese Frage gehen wird. Schwierigkeiten könnte hier nur die moderate Partei Kulanu von Mosche Kahlon machen. Sie hatte bereits in der vergangenen Legislaturperiode verschiedene Gesetzesvorhaben, die Medien oder den Rechtsstaat bedrängen wollten, geblockt. Es bleibt fraglich, ob Netanjahu dazu bereit sein wird.

Die Forderung nach einem solchen Deal setzt Netanjahu in seiner Regierungsbildung also unter erheblichen Druck. Zusätzlichen Schub hat diese Frage dadurch bekommen, dass US-Präsident Donald Trump nur Wochen vor der Knesset-Wahl die von Israel seit 1967 besetzten syrischen Golanhöhen als Staatsgebiet Israels anerkannte. Diese Anerkennung durch Israels wichtigsten internationalen Verbündeten, die USA, könnte einen Dammbruch zur Folge haben: Warum soll künftig, was auf dem Golan „rechtens“ ist, im Westjordanland Unrecht sein? Dabei wissen die meisten Israelis nicht einmal, dass die US-Ankündigung keine völkerrechtliche Relevanz hat.

Der Wahlkampf der Opposition 

Gerade angesichts der Kampfansagen der ultrarechten Parteien an die israelische Demokratie hatte das Oppositionsbündnis Kahlon-Lavan–Blau-Weiß unter Benny Gantz im Wahlkampf die innere Demokratie und die Pluralität jüdischen Glaubens zu zentralen Wahlkampfthemen gemacht.

Im Wahlkampf wurde auch deutlich, dass Blau-Weiß aus den Fehlern der Vorjahre gelernt hatte und nun strategisch besser aufgestellt war. Das zeigte sich vor allem in ihrem strategischen Umgang mit der zentralen Frage der israelischen Sicherheit, mit der Netanjahu – oftmals „Mr. Security“ genannt – zuvor Wahlen für sich gewinnen konnte. Das neue Parteienbündnis der Hosen L’Israel mit Benny Gantz an der Spitze und der Zentrumspartei Yesh Atid mit Yair Lapid präsentierte gleich drei ehemalige Generäle an ihrer Spitze. Gantz hatte daher erstmals während des gesamten Wahlkampfes ähnlich hohe persönliche Umfragewerte wie Netanjahu und das Bündnis lag in den meisten Umfragen einige Sitze vor dem Likud. Das Ergebnis der blau-weißen Opposition war mit 35 Sitzen fast gleichauf mit Likud und damit eines der stärksten der letzten Jahre. Wegen einer fehlenden Koalitionsmehrheit aus dem Mitte-Links-Spektrum reichte es allerdings nicht zum Sieg. Blau-Weiß bringt es mit Labour (6) und der kleinen Meretz (4) gerade mal auf 45 Sitze. 

Keine Mitte-Links Mehrheit ohne arabische WählerInnen

Gantz hatte vor allem die Tatsache, dass ihm nur mit Unterstützung der arabischen Parteien, Hadash-Ta`al und Ram-Balad eine Regierungsbildung möglich gewesen wäre, eine gefährliche Gegen-Kampagne des rechten Spektrums eingebracht. Bereits 2015 hatte Netanjahu in letzter Minute die Wahl mit einer erfolgreichen Schmutzkampagne gegen die arabisch-palästinensische Bevölkerung gewonnen. Er hatte der Linken vorgeworfen, „die Araber in Bussen zu den Wahlurnen“ zu bringen. Dieses Mal hatten seine Aktivisten 1.200 Kameras in beziehungsweise vor arabischen Wahllokalen installiert, was offensichtlich arabische WählerInnen vom Urnengang abhalten sollte und ihnen vor allem erneut signalisierte, dass sie nicht zur israelischen Gesellschaft gehören. 

Außer dem Präsidenten Reuven Rivlin, der immer wieder betont, dass die arabischen BürgerInnen wichtiger Teil der israelischen Gesellschaft sind, hat sich das oppositionelle Bündnis leider nicht getraut, dagegen zu halten. Das Ergebnis war, dass dieses Mal die Wahlbeteiligung unter den arabischen Bürgerinnen und Bürgern extrem niedrig war. Enttäuschung und Frustration sowohl über die eigenen Parteien, aber auch über die Mehrheitsgesellschaft werden hier eine Rolle gespielt haben. Diese Erkenntnis, die jetzt erst langsam durchsickert, muss allerdings als zentraler strategischer Fehler der zionistischen Mitte-Links-Parteien angesehen werden. Schon die vergangene Wahl hatte gezeigt: Ohne ein strategisches Bündnis mit den arabischen Parteien werden Mitte-Links-Bündnisse in Israel keine Wahlen gewinnen.

Perspektiven für die neue Opposition

In seiner Oppositionsarbeit steht Blau-Weiß vor allem vor der zentralen Herausforderung, dieses strategische Thema weiter ernst zu nehmen: Nur wenn die Opposition die arabischen WählerInnen nachhaltig anspricht und ihnen einen Platz in ihrer politischen Arbeit einräumt, wird sie das Bündnis von Likud und den Ultra-Rechten in Zukunft machtpolitisch ernsthaft herausfordern können. Das bedeutet vor allem auch: Das Oppositionsbündnis ist gefordert, seine Geschlossenheit aus der Wahlkampagne in der parlamentarischen Arbeit fortzusetzen. Es ist mehr als fraglich, ob dies gelingen wird, denn einig waren sich die Bündnispartner eigentlich fast nur in der Abwahl Netanjahus.

Für die Entwicklung der israelischen Demokratie unter der nächsten Regierungskoalition heißt dies, dass die Opposition den weiteren Demokratieabbau, allen voran die Demontage der Unabhängigkeit des Obersten Gerichtes, kaum verhindern werden wird. 

Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft und die EU

Sollte eine neue Rechtsregierung weiter die liberale Demokratie Israels abbauen und mit der Teil-Annexion des Westjordanlands beginnen, so stellt das die internationale Gemeinschaft und damit auch die Europäische Union und Deutschland vor große Herausforderungen.

Bereits im Zuge des NGO-Gesetz von 2016 hatte die Bundesregierung sich gegenüber der israelischen Regierung klar positioniert – auch deshalb, weil alle deutschen Stiftungen eng mit der israelischen Zivilgesellschaft zusammenarbeiten und deren Arbeit damit in Frage stand. Wie sich die internationale Gemeinschaft gegenüber einer Defacto-Entmachtung des Obersten Gerichtshofs durch das mögliche „Override“-Gesetz verhalten wird, ist unklar. Israel ist zwar nicht Teil der EU, doch es versteht sich als Teil der westlichen Wertegemeinschaft, es ist zum Beispiel Mitglied der OECD. Daran muss es sich messen lassen.

Im Hinblick auf das Konzept der Zwei-Staatenregelung ist die völkerrechtliche Lage klar. Bisher beharrte die internationale Gemeinschaft gegenüber den Konfliktparteien immer auf der Zwei-Staatenregelung zur friedlichen Konfliktbeilegung. Mit einer beginnenden Annexion des Westjordanlands könnte dieses Konzept endgültig ad acta gelegt sein. Auch wenn die EU diesen Weg aufs Schärfste verurteilt, wird dies die israelische Regierung kaum abschrecken – erst recht nicht angesichts der starken Unterstützung aus dem Weißen Haus.

Zudem ergab eine am 25. März veröffentlichte Untersuchung im Auftrag der Zeitung Haaretz, dass sogar linke WählerInnen von Blau-Weiß, Labor sowie Meretz bis hin zu Teilen der arabischen Israelis inzwischen eine teilweise Annexion des Westjordanlands befürworten – insgesamt waren es 42 Prozent. Zwar verbinden die Befragten ganz unterschiedliche Vorstellungen damit, bis hin zu einem binationalen Staat mit gleichen Rechten für die Palästinenser. In der Konsequenz kann dies aber bedeuten, dass der Trend zur Ein-Staatenregelung nicht mehr aufzuhalten ist. 

Es ist daher endgültig an der Zeit, dass sich die EU und damit auch die deutsche Bundesregierung den Realitäten vor Ort stellt und darauf Antworten und Strategien entwickelt. Ein schlichtes Beharren auf einem Konzept, das vor Ort durch die Konfliktparteien bereits stark erodiert ist und auch durch die aktuelle US-Regierung zunehmend geschwächt wird, wird in der Zukunft kaum noch politisch relevant sein.

Bibliografische Angaben

Müller, Kerstin. “Israel am Scheideweg.” April 2019.

DGAPstandpunkt 10, 15. April 2019, 4 S.