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06. Sep 2021

Geopolitische Diplomatie und die europäische Digitalstrategie

Margrethe Vestager and Thierry Breton attend the presentation of the European Commission's digital strategy in Brussels, Belgium February 19, 2020. REUTERS, Yves Herman

Wie können wir von der Verantwortungsdiffusion zur Governance des Digitalen gelangen? Wie breit ist das Feld der Governance, und wie könnte diese in Zukunft aussehen? Wie kann eine wertegeleitete Digitalpolitik konkret umgesetzt werden? Tyson Barker hebt die Debatte auf die internationale Ebene. Er skizziert, wie wertebasierte Standards im geopolitischen Systemwettbewerb gewahrt werden können und bietet drei Wege in die europäische digitale Zukunft an.

Dieses Kapitel erschien ursprünglich in Chris Piallat (2021) Der Wert der Digitalisierung. Gemeinwohl in der digitalen Welt als Teil der Reihe Digitale Gesellschaft (Band 36). Die Fußnoten finden Sie in der PDF Version.

 

Übersicht

Europas großes technisches Umdenken

Was bedeutet das für die europäische Demokratien im globalen Tech-Rennen?

Europas Vorbereitungen für den großen Wurf

Drei strategische Entscheidungen/Drei Wege in die digitale Zukunft Europas

  1. Eine Werte-Technologie-Fusion schaffen
  2. Europas Krise der technischen Abhängigkeit durch Offenheit und Resilienz lösen
  3. Regeln mit globalem Anspruch durchsetzen

Was ist die Killer-App der europäischen Technologiepolitik?

 

Im Mai 1844 übermittelte der US-amerikanische Erfinder Samuel Morse die erste elektronische Nachricht über eine 44 Kilometer lange Telegrafenleitung zwischen Washington, DC, und Baltimore. Diese Nachricht, die ihm die Tochter eines Freundes vorgeschlagen hatte, enthielt den Bibelvers: »What hath God wrought?« (zu Deutsch: »Was hat Gott geschaffen?«). Morse sendete damals aus einem Raum direkt im US-Kapitol, in dem noch heute eine Gedenktafel an diese erste elektronische Mitteilung der Welt erinnert. Der Inhalt seiner Nachricht spricht für die tiefe Ehrfurcht vor der Erkenntnis, welche unglaubliche Kraft und Macht diese technische Innovation für das noch junge Industriezeitalter mit sich brachte. Schon bald verbanden Telegrafenleitungen Nationen miteinander, schufen neue Lieferketten und revolutionierten die Kriegsführung. Im Jahr 1946, fast hundert Jahre später, wurde derselbe Raum im US-Kapitol die neue Heimat des Joint Committee on Atomic Energy, dem führenden Gremium für die zivile und militärische Nutzung von Atomkraft. Wiederum war ein neues Zeitalter angebrochen – das Atomzeitalter –, getragen von einer weiteren transformativen Technologie, die Potenzial, Macht, militärische und ökonomische Emanzipation und beängstigende Zerstörungskraft in sich vereint.

In jedem dieser technologisch-historischen Schlüsselmomente war die internationale Gemeinschaft gezwungen, zusammenzuarbeiten, um Normen, technische Standards, Regelwerke, Kommunikationsmittel, internationale Institutionen und letztlich eine internationale Ordnung zu schaffen. Wenn also heute eine internationale digitale Ordnung entsteht, müssen sich die Demokratien Europas fragen: Welche Art globale technologische Ordnung brauchen wir? Wollen wir wertebasierte Gesellschaften, Staaten und Mächte nach dem Vorbild der EU schaffen? Wie können unsere Werte und das Gemeinwohl zur treibenden Kraft bei der Gestaltung der Digitalisierung werden? Wie erreichen wir dieses Ziel vor dem Hintergrund des geopolitischen Systemwettbewerbs im digitalen Raum? Klar ist, Europas digitale Regulierungsstrategie und Industriepolitik müssen sich an internationalen Interessen orientieren, wie der Sicherung der wirtschaftlichen Stärken Europas, der Bewahrung demokratischer Grundwerte, der Förderung globaler Cyber-Resilienz, dem Schutz einer offenen digitalen Ordnung und der Förderung grüner Technologien zur Reduzierung von CO2-Emissionen.

Schließlich steuert die Welt heute auf ein neues technologisches Zeitalter zu, da gleich mehrere transformative digitale Technologien wie künstliche Intelligenz (KI) und Big Data, Cloud- und Edge-Computing, Quantentechnologien, Blockchain und Internet of Things zum Einsatz kommen. Sie ermöglichen neue Formen des medizinischen Screenings und der Patientenbehandlung, sicherere, selbstfahrende Fahrzeuge, eine einfachere, natürlichere Mensch-Maschine-Interaktion, eine effizientere Logistik, bessere landwirtschaftliche Methoden und höhere Ernteerträge sowie eine schnellere Entscheidungsfindung in allen Bereichen, angefangen vom Versicherungs- über das Bankwesen und die Polizei bis hin zur nationalen Sicherheit. Zusammengenommen werden die digitalen Technologien das globale wirtschaftliche und geopolitische Kräfteverhältnis so nachhaltig und grundlegend verändern, wie es seit der industriellen Revolution nicht mehr der Fall war.

Die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit und Verständigung über die offenen Fragen ist groß. Insbesondere angesichts der zunehmenden Fragmentierung des Internets, der Lokalisierung von Daten, der wachsenden Rolle von Technologien als ideologische Einflussfaktoren für den Export von Governance-Modellen – durch neue Internetprotokolle wie New IP, Chinas digitale Seidenstraße, die Nutzung und den Export von KI-gestützter Massenüberwachung, unter der derzeit mehr als eine Million Uiguren leiden – sowie auch der stärkeren Instrumentalisierung digitaler Abhängigkeiten als politische Waffen. Die Corona-Krise hat viele dieser Trends beschleunigt, sowohl im Positiven als auch im Negativen. Sie hat einerseits eine vermehrte Nutzung digitaler Technologien bewirkt und andererseits ein neues Bewusstsein für die Anfälligkeit globaler Lieferketten und neue Formen technologischer Abhängigkeiten geschaffen. Tatsächlich hat die Corona- Krise zahlreiche neue Cyber-Schwachstellen geöffnet und grundsätzliche Fragen zur Zukunft der Demokratie, der digitalen Souveränität und der Menschenwürde aufgeworfen. Vor diesem Hintergrund entsteht eine neue geotechnologische Landschaft – also ein Umfeld, bei dem die NATO kürzlich von einer »strategischen Gleichzeitigkeit« sprach, in dem also mehrere miteinander verbundene Herausforderungen parallel auf die Demokratien zukommen.

Zudem setzen neue disruptive Technologien die Governance-Architektur der meisten Länder unter Druck und konfrontieren Gesellschaften mit ethischen, wirtschaftlichen und politischen Differenzen, die es auszugleichen gilt. Weltweit haben sich Regierungen, Technologieunternehmen, die Europäische Union, die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, die NATO, Multi-Stakeholder-Foren, internationale Gremien für Normen wie die International Standards Organization (ISO), die Kommunistische Partei Chinas und sogar der Vatikan mit den ethischen und geopolitischen Herausforderungen der nahezu prometheischen Kräfte auseinandergesetzt, die durch Deep Learning, 5G, Cybersicherheit, Edge-Computing und digitale Währungen entfesselt werden können. Was Gott geschaffen hat, in der Tat.

Das Zeitalter der technologischen Revolutionen brachte neue Ethiken, Regulierungsphilosophien, Institutionen und Governance-Modelle hervor. Innerhalb der ersten 21 Jahre nach der Erfindung des Telegrafen gründeten die Staaten Europas in Paris die Internationale Fernmeldeunion (engl. International Telegraph Union, ITU). Als eine der ersten multilateralen Institutionen der Welt wurden mithilfe der ITU das Alphabet standardisiert, das Recht auf Telegrafenzugang für alle geschützt und Regeln für das Briefgeheimnis geschaffen. Die ITU existiert heute unter dem Namen International Telecommunications Union als UN-Sonderorganisation. Mit der Entwicklung der Atomenergie entstand ein Dickicht von Normen, technischen Standards, Institutionen und Protokollen. In Europa wurde die Europäische Atomgemeinschaft (Euratom) gegründet, eine europäische Vorgängerorganisation, die der EU auch als Integrationsprojekt diente. Dazu gehörte ebenfalls das gemeinsame Forschungszentrum Conseil Européen pour la Recherche Nucléaire (CERN), aus dem schließlich das World Wide Web hervorging. Auf jeden Fall brachte die Technologie eine neue internationale Ordnung hervor, indem sie neue Werte, Instrumente und Institutionen zusammenführte, um die Kraft der Technologie zu kanalisieren – und ihre Macht an internationales Recht und Normen zu binden.

Im Laufe der Jahrzehnte haben Europa und die USA mit anderen Demokratien zusammengearbeitet, um Multi-Stakeholder-Foren wie das World Wide Web Consortium (W3C), das Institute of Electrical and Electronics Engineers (IEEE) und das Internet Governance Forum (IGF) als zentralen Ort der Internet-Governance und -Standards zu fördern, in denen Staaten mit der Zivilgesellschaft, der Wirtschaft, Expert*innen und Akademiker*innen gemeinsam beraten, um einen Konsens über die Governance-Inhalte und Strukturen zu schmieden. Dieses Modell wird zunehmend von autoritären Mächten wie China und Russland infrage gestellt, die die Kontrolle über die digital Governance in die merkantilistischen Hände des Staates legen wollen, oft mit der Begründung, dass sie Cybersicherheit oder digitale Souveränität wiederherstellen wollen.

Europas großes technisches Umdenken

Die EU unternimmt bereits ehrgeizige Anstrengungen bei der Neufassung digitaler Regulierung, die auf den Prinzipien von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie beruht. Zu den Vorschlägen der EU gehören neue Ansätze in den Bereichen Data Governance, Cloud-Computing, künstliche Intelligenz, Content-Moderation von Hassrede und Desinformation, Cybersicherheit und Marktmacht. Europas Bemühungen stellen einen ehrgeizigen Versuch dar, ein neues Regelwerk für die digitale Welt zu schaffen. Bei der Regulierung von Plattformen ist Europa führend und wähnt sich als Kämpfer gegen eine Art »dunkle Aufklärung«, die von einer pervertierten Anreizstruktur angetrieben wird: Mit emotional aufgeladenen Inhalten wird eine Nutzung gefördert, die abhängig macht und so ihrerseits die massenhafte Datensammlung zwecks gezielter Werbung befeuern soll. Zusammengenommen entstehen auf diese Weise Netzwerkeffekte, die es Big-Tech-Plattformen ermöglichen, zu mächtigen Online-Gatekeepern zu werden.

Aber die Bemühungen gehen weiter als nur bis zur Festlegung des Regelwerks. Im März 2021 stellte die Europäische Kommission ihren umfassenden Digitalen Kompass vor, »der die konkreten digitalen Ambitionen der EU für 2030 darlegt«. Der Digitale Kompass soll die europäischen Anstrengungen in verschiedensten Politikbereichen der Digitalisierung standardisieren. Die Themen reichen von Industrieprojekten zur Stärkung der industriellen Innovationsbasis der EU bis hin zur Schaffung eines digitalen Binnenmarktes. Die Staats- und Regierungschefs fordern konkrete Ziele bis 2030. So sollen beispielsweise alle EU-Haushalte über Gigabit-Internet-Anschlüsse verfügen. Alle bewohnten Regionen sollen mit 5G versorgt werden. Die EU will die Zahl der Einhorn-Startups, also der Start-ups mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde US-Dollar, verdoppeln, den europäischen Anteil an der Produktion von High-End-Halbleitern von 10 auf 20 Prozent der weltweiten Kapazität erhöhen und 10.000 Edge-Computing-Knoten hinzufügen, um die nächste Welle der Cloud-Computing Anwendung und Europas Streben nach einer souveränen Cloud zu beschleunigen. Zum Digitalen Kompass soll auch ein Beaufsichtigungsprozess von Investition und Entwicklung gehören, der »permanent, wiederkehrend und auf einer breiten gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Basis aufgebaut sein sollte«.

Innenpolitisch und innerhalb der EU sind die Kommission und die Mitgliedsstaaten dabei, die digitale Politik – und auch sich selbst – auf diese neue Ära vorzubereiten. Einige fordern, die geltende Regulierung komplett zu überarbeiten, also ein institutionell fokussiertes Regelwerk (verstaubte Behörden setzen verstaubte Gesetze um) in ein beziehungsbasiertes regulatorisches Ökosystem zu verwandeln. Ähnlich wie beim maschinellen Lernen soll ein sogenannter »lernender Staat« entstehen. Die EU beginnt bereits, solche neuen Managementmodelle für die Regulierung anzuwenden. Zum Beispiel zielt der Digital Services Act darauf ab, eine unabhängige Rechenschaftspflicht, Prüfung und Überwachung von Big-Tech-Plattformen zu schaffen, an der nicht nur Big Tech und Regulierungsbehörden beteiligt sind, sondern auch unabhängige Akteure, Akademiker*innen, vertrauenswürdige Hinweisgeber (trusted flaggers) und staatsferne Beratungs- und Entscheidungsgremien. So soll sichergestellt werden, dass die Big-Tech-Plattformen ihre eigenen Nutzungsbedingungen in Bezug auf hetzerische Inhalte und Desinformation auch durchsetzen.

In der Vergangenheit ging der Innovationsschub der industriellen Revolutionen mit einer Neuerfindung der Rolle des Staates einher; Sozialstaat, Gewerkschaften, Arbeitsgesetze, Produktsicherheitsstandards und neue internationale Organisationen entstanden. Der industrielle Kapitalismus des 19. Jahrhunderts war mit maschinenbezogenen, dauerhaften Technologien in den Fabrikhallen straff organisiert. Der Internet-Kapitalismus dagegen ist agil, vermittelnd und verhaltensorientiert. Seine Regulierung hat mit dieser Entwicklung aber nicht Schritt gehalten. Es ist eine Diskrepanz entstanden, die es den agilen Big-Tech-Unternehmen ermöglicht hat, diese Art der staatlichen und statischen Aufsicht zu umgehen. Die EU und die europäischen Demokratien müssen sich mit diesem Missverhältnis auseinandersetzen.

Was bedeutet das für die europäische Demokratien im globalen Tech-Rennen?

Auch wenn Europa mit der Neuerfindung des Staates begonnen hat, gibt es eine weniger offensichtliche geoökonomische – und letztlich geopolitische – Dimension in den Digitalstrategien vieler europäischer Staaten. Die heutigen Architekten der Digitalpolitik in den einzelnen europäischen Demokratien dürfen die Notwendigkeit einer digitalen Gesamtstrategie nicht aus den Augen verlieren. Mithilfe einer sogenannten Digital Grand Strategy können sie ihre heimischen technologischen Fähigkeiten und Ziele mit internationalen Werten und Interessen verbinden. Letztlich werden Europas Bemühungen nur dann erfolgreich sein, wenn die EU in der Lage ist, eine selbstbewusste, leistungsstarke, europäische digitale Wirtschaft zu entwickeln, die in eine offene, demokratische, regelbasierte digitale Ordnung eingebettet ist.

Sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, war noch nie so dringend wie heute. Zwei politische Realitäten haben Europas technologische Landschaft seit 2017 geprägt. Die erste, aus China kommende, ist der Aufstieg einer neuen Form von unerbittlicher technologischer Industriepolitik, die von einem autoritären Bedürfnis nach absoluter Kontrolle im eigenen Land und einer Mischung aus inländischem Protektionismus, Diebstahl von geistigem Eigentum, strategischen Investitionen, Regierungsplänen, brachialen Subventionen und einem nationalen Gefühl der gemeinsamen Mission angetrieben wird. Die zweite, aus den USA kommende Realität, ist die Bereitschaft der Trump-Regierung, technologische und wirtschaftliche Engpässe anderer Länder zu nutzen, um diese zu zwingen, sich den geopolitischen Zielen der USA zu beugen. Diese beiden Lektionen – das Streben nach größerer technologischer Autonomie im eigenen Land und die Ausnutzung gegenseitiger Abhängigkeiten als Waffe auf globaler Ebene – deuten auf ein härteres geotechnisches Umfeld hin, in dem das Risiko einer Versicherheitlichung und Fragmentierung des digitalen internationalen Systems hoch ist.

Wie andere Mächte ist auch die EU zunehmend ins Kreuzfeuer geraten und wird gezwungen, zwischen dem Zugang zum chinesischen Markt oder der Nutzung von US-Technologie zu wählen. Sich technologisch von China oder den USA abzukoppeln, ist für Europa keine Option. Aber da Europas Abhängigkeit von China wächst, könnte die Verflechtung der europäischen industriellen Basis mit der chinesischen, etwa bei der Verschmelzung von Systemen, die intelligente Städte, autonome Fahrzeuge und Produktionsprozesse steuern, zunehmen. Mit dem Wachstum ihrer technologischen Macht ist der Umgang der Kommunistischen Partei Chinas mit Technologie brachialer, unberechenbarer und ideologisch unvereinbar mit dem europäischen politischen System geworden. Europas Demokratien werden sich die Frage stellen müssen, inwieweit ihr technologisches Entgegenkommen gegenüber China letztlich dazu beitragen könnte, Chinas autoritäre Dominanz zu stärken.

Chinas relativer Aufstieg in der technologischen Wertschöpfungskette in den letzten zehn Jahren war ein disruptiver Faktor im globalen Technologie-Ökosystem. Die von der Kommunistischen Partei Chinas propagierte Verschmelzung von Staat und Unternehmen zu einer vertikalen Organisation nimmt verschiedene Formen an, von staatseigenen Unternehmen über Vorstandsstrukturen bis hin zu rechtlichen Zugriffsmöglichkeiten auf alle »wichtigen Daten«. Gepaart mit massiven nationalen und lokalen Staatsinvestitionen, staatlich begünstigten Unternehmen, erzwungenen Joint Ventures und der gemeinsamen Nutzung von technologischem Wissen, das auch durch staatlich unterstützte oder instruierte Industriespionage gesammelt wurde, veredeln Nachahmerfirmen im eigenen Land dieses Know-how. Diese Co-Abhängigkeit vom Staat und von der Kommunistischen Partei Chinas als unangefochtenem Seniorpartner ist ein charakteristisches Merkmal des chinesischen Technologiesektors und wurde zum Maßstab für seine Expansion in Bereichen wie Telekommunikationshardware, Mobiltelefonie, Fintech, E-Commerce, soziale Medien und Internet of Things. Dieser Zusammenschluss hat andere Großmächte, insbesondere die USA, aber auch Großbritannien, Kanada, Japan, Südkorea sowie die EU, dazu veranlasst, den Zugang zu und die Kontrolle über Schlüsseltechnologien zu überdenken.

Jenseits des Atlantiks spielen die USA immer noch eine wichtige Rolle als Sicherheits- und Technologie-Garant für Europa. Auch wenn die Biden-Administration ein neues Angebot für eine enge transatlantische Zusammenarbeit und die Stärkung des Multilateralismus unterbreitet hat, haben die Nachwirkungen der Snowden-Enthüllungen (2013), der Trump-Wahl (2016), von Cambridge Analytica (2018) und der allgemeinen Verschlechterung der amerikanischen Demokratie zu einem berechtigten europäischen Bedürfnis geführt, sich nach verschiedenen Seiten abzusichern. Die jüngste Zeit ist jedoch durch ein strukturelles Ungleichgewicht in Europas Tech-Politik gekennzeichnet, das in erster Linie durch die Bedrohungswahrnehmung der amerikanischen Tech-Dominanz definiert wurde und weniger durch die zunehmende Rolle Chinas als digitaler Akteur oder die ideologischen Auseinandersetzungen zwischen demokratischen und autoritären Visionen vom digitalen Raum.

Europa muss deutlich machen, dass ein äquivalent großer Abstand zu China und zu den USA (Äquidistanz) keine Option ist. Im Kampf um den Schutz der Grundrechte, die Einhaltung des Völkerrechts beim Schutz des geistigen Eigentums, von Cybersicherheit und der demokratischen Ausgestaltung von Technologien müssen die EU und ihre Mitgliedsstaaten an der Seite gleichgesinnter Akteure stehen, einschließlich der USA. Gleichzeitig muss sich Europa aber auch gegen Schwachstellen wappnen, die durch den immer härter werdenden, technologischen Wettbewerb zwischen den USA und China zustande kommen. Und es muss sicherstellen, dass die beschlossenen Maßnahmen ausreichen, um die Aushöhlung der Wertschöpfungspotenziale in Europas Industrien zu verhindern: Ein hoher Anspruch angesichts der Bedeutung der Industrie für Europas Stärke und der sich verändernden Natur von Technologie und Produktion.

Europas Vorbereitungen für den großen Wurf

Vor diesem Hintergrund ist die Wettbewerbsfähigkeit Europas, die industrielle Basis der EU und das Fundament ihrer globalen Macht, unter Druck geraten. Der Zugang zu und die Kontrolle über Plattformen, Datenpools, Cloud- und Internet-Infrastrukturen, hochentwickelte Algorithmen wie KI, Quantentechnologie und fortschreitende Mikroelektronik werden zu zentralen Elementen wirtschaftlicher, strategischer und demokratischer Macht und Verwundbarkeit. Die Fähigkeiten und die Raffinesse, grundlegende Technologien in klassische Produkte und Dienstleistungen zu integrieren, definieren zunehmend innovatorischen Erfolg. Alteingesessene Sektoren wie die Automobilindustrie, Haushaltsgeräte- und Maschinenbau, die industrielle Fertigung in der Chemie und Pharmazie – mit anderen Worten: das Herz der europäischen Industrie – basieren zunehmend auf Software, dienstleistungsbasierten Systemen und Datenverarbeitung. Daher müssen Europas traditionelle Unternehmen zu Tech-Unternehmen werden. Sie stehen dabei in einem harten Wettbewerb mit amerikanischen und chinesischen Tech-Konkurrenten. Der Wettstreit um die technologische Führung wird verstärkt auf industriellem Terrain ausgetragen, das Europa lange Zeit dominiert hat, in dem es aber zunehmend an Vorteil verliert. Wie die Europäische Kommission selbstkritisch festgestellt hat: »The EU trajectory is not catching up with that of its key competitors, notably China and the US, accelerating far more sharply since 2017.«

Das wichtigste Element, um in diesem Wettlauf zu bestehen, ist Ursula von der Leyens Versprechen der »Digitalen Dekade«. Massive finanzielle Investitionen sollen zur Verfügung gestellt werden, um europäische Technologie- und Digitalisierungsprojekte zu finanzieren. 20 Prozent des 672,5 Milliarden Euro schweren Pakets zur Aufbau- und Resilienzfazilität der EU sollen dafür verwendet werden, den Kontinent für das digitale Zeitalter fit zu machen. Die ehrgeizigen Tech-Kommissare Margrethe Vestager und Thierry Breton sind bereits dabei, die Industriepolitik der EU zu aktualisieren. Frankreich, Deutschland und die EU haben gemeinsam eine Phalanx neuer Projekte zu 5G-Netzwerkinfrastrukturen, Halbleitern, Cloud und Daten, Wasserstoff und Batterien angedeutet. Wie andere fortschrittliche Industriemächte hat Europa die Überwindung der Corona-Krise mit dem Bestreben verbunden, seine industrielle Basis zu erneuern. Die europäischen Demokratien haben umfangreiche Investitionen in aufstrebende Technologien zugesagt, insbesondere in künstliche Intelligenz, Hochleistungscomputer und Quantencomputer, und bauen Technologie-Innovationscluster wie das baden-württembergische Cyber Valley für KI und maschinelles Lernen auf. In Europa werden die Rufe nach einer Rückeroberung der »digitalen Souveränität« durch die EU entsprechend immer lauter. Doch die genaue Ausrichtung der »digitalen Souveränität« ist umstritten. Sie spiegelt die wechselnden Positionen, Interessen und Weltanschauungen wider, die die Ziele bestimmen. Handelt es sich um einen Aufruf zur Wiederherstellung der informationellen Selbstbestimmung der Nutzer*innen, zur Förderung von mehr Wettbewerb, zur Festlegung klarer, menschenzentrierter digitaler Regeln und zur Aufrechterhaltung offener Märkte? Oder ist es ein Vorstoß für eine Art Techno-Gaullismus, in dem Europa seine eigenen Tech-Champions schafft? Kann es wirklich beides sein?

Drei strategische Entscheidungen/

Drei Wege in die digitale Zukunft Europas

Die verschiedenen genannten Initiativen sind für die digitale Souveränität Europas von Bedeutung und können zusammen dazu beitragen, dass Europa die globale digitale Ordnung mitgestaltet. Aber hierin liegt bereits das zentrale Paradox. Die Vielzahl der Herausforderungen vernebelt ein klares strategisches Narrativ. So erscheint die Technologiepolitik der demokratischen Staaten unausgewogen und manchmal sogar hilflos. Wenn alles oberste Priorität hat, hat nichts mehr Priorität. Aus diesem Grund müssen die europäischen Demokratien einen ausbalancierten Ansatz in der internationalen Tech-Diplomatie finden und klare Prioritäten setzen. Dazu müssen drei strategische Entscheidungen getroffen werden.

Eine Werte-Technologie-Fusion schaffen

Erstens: Wie kann Europa zur treibenden Kraft hinter einer Fusion von Werten und Technologie werden, die Menschenwürde und Nachhaltigkeit fördert? Weltweit haben Technologieunternehmen, Regierungen, internationale Organisationen und die Zivilgesellschaft die letzten Jahre damit verbracht, über die Ethik der Technologie – insbesondere der künstlichen Intelligenz – zu diskutieren. Dabei haben sie es versäumt, den Schwerpunkt darauf zu legen, diese Ethik bereits in den Design-Spezifikationen der neuen Technologien zu kodifizieren und zu implementieren. Das kann beispielsweise bedeuten, internationale Leitplanken zu schaffen, die die potenziell orwellsche Reichweite digitaler Technologien begrenzen. Dazu gehören Bestimmungen gegen algorithmische Diskriminierungen, der Vorrang menschlicher Entscheidungen sowie das Verbot von Profiling und die Verwendung von Stimm-, Gesichts- oder gar neuronaler Daten für bestimmte Anwendungen.

Europas Demokratien müssen abwägen, wie sie ihre politische und ökonomische Macht am besten nutzen können, um globale Regelwerke mit Partnern wie den USA, Japan, Südkorea und vielleicht subnationalen staatlichen Akteuren wie Kalifornien festzulegen. Die demokratischen Staaten sollten neue Bestrebungen unterstützen, die auf eine Charta der digitalen Rechte sowohl im Inland als auch in einem Multi-Stakeholder-Kontext weltweit drängen. Das bedeutet aber auch, das technologische Design von Beginn an an diesen Werten auszurichten. Sie sollten diese Verschmelzung auch für innovative Technologien zur Bekämpfung des Klimawandels ausweiten. Eine Rolle, die die »digitale Dekade« der EU bereits hervorhebt. Europa kann eine führende Rolle bei der internationalen Förderung neuer Technologien zur Bekämpfung von Kohlenstoffemissionen einnehmen, so wie es dies bei Solar- und Windtechnologien getan hat.

Die globale Rolle der EU als Regelsetzer ist ihr offensichtlichster und stärkster Hebel, insbesondere bei Normierungen und der Festlegung technischer Standards. So war Frankreich federführend bei der Gründung der Global Partnership on AI der OECD und des Paris Call for Stability in Cyber Space. Die EU-Mitgliedsstaaten führten nacheinander den Vorsitz bei den letzten drei Treffen des Internet Governance Forums (IGF), einem wichtigen Agenda-Setting-Gremium.15 Die EU hat sich in der Vergangenheit gemeinsam mit gleichgesinnten Staaten wie den USA für den Schutz des Multi-Stakeholder-Systems der Internet-Verwaltung eingesetzt. Die EU spielt auch eine führende Rolle in der Internet Engineering Taskforce (IETF), demjenigen Standardisierungsgremium, das für die Internet-Protokollsuite (TCP/IP) verantwortlich ist. 42,5 Prozent der IETF-Dokumente sind von europäischen Autor*innen oder Co-Autor*innen (mit)verfasst – deutlich mehr als China (8,4 Prozent), aber weniger als die Vereinigten Staaten (72,98 Prozent).16 Deutschland und Frankreich sind zwei von sechs ständigen Mit- gliedern der International Standards Organization (ISO), dem Gremium, das für die technischen Standards vieler IKT-Produkte und -Dienstleistungen verantwortlich ist. Deutschland allein hält 18 Prozent der ISO-Sekretariate, 19 Prozent der IEC-Sekretariate und 29 Prozent der IEC-Vorsitze, und damit mehr als jedes andere Land. Deutschland und Europa bleiben die normsetzende Supermacht, was zum Teil auf ihre Kapazitäten und die Beherrschung der Prozesse in den oben genannten Institutionen zurückzuführen ist.

Europas Krise der technischen Abhängigkeit durch Offenheit und Resilienz lösen

Zweitens: Wie kann Europa Offenheit und Resilienz als doppelte Grundlagen seiner internationalen Digitalpolitik stärken? Als mächtiger Akteur entlang der globalen Lieferketten hat Europa sowohl zu einem offenen System bei- getragen als auch davon profitiert. Das betrifft den freien Fluss von Daten, Diensten, Hardware und Wissen. Daher sind die Abhängigkeit von geopolitischen Hotspots, die Fragmentierung des Internets oder das Streben nach souveräner Ende-zu-Ende-Kontrolle von Basistechnologien eine direkte Bedrohung für Europa. So muss beispielsweise die weltweite Tendenz zur Datenlokalisierung die EU beunruhigen. Sollte die Welt in einen Daten-Merkantilismus verfallen, würde dies für Europa – mit seinem derzeitigen Datenmangel und abgeschnitten von den umfangreichen US-amerikanischen oder chinesischen Datenpools – einen massiven Nachteil bedeuten, gerade wenn es versucht, sich zu einer Macht auf dem Gebiet der vernetzten Industrien und des Inter- nets der Dinge zu entwickeln.

Vielmehr gilt es, bei den vorhandenen Fähigkeiten anzusetzen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten vereinen immense und unterschätzte Stärken in aufstrebenden Technologien und dominieren mehrere Schlüsselbereiche des digitalen Marktes. Sie sollten die Sicherung ihrer etablierten Kompetenzen ausbauen. Zum Beispiel ist Europa weltweit führend bei Industrie- und Logistikplattformen, Robotik und dem Internet der Dinge. Dagegen spielt Europa bisher in der fortschrittlichen Halbleiterproduktion eine untergeordnete Rolle. Ohne sogenannte EUV-Lithografie zur Herstellung effizienterer Chips werden die autonomen Fahrzeuge, 5G-Technologie und Industrie 4.0 nicht vorangetrieben werden können. Ohne den niederländischen Halbleiter-Lithografie-Ausrüster ASML und die deutschen Optik-Spezialisten Trumpf und Zeiss wird das unmöglich.

Trotz all der versteckten Stärken und sogar der Größe Europas macht es die Struktur seiner industriellen Basis schwierig, den amerikanischen oder chinesischen Ansatz zu replizieren. Vielmehr sollte Europa globale Tech-Beziehungen fördern, die eine Abhängigkeit von einzelnen Anbietern vermeiden – sei es in Form von Gatekeeper-Plattformen, 5G-Technologien oder Chips. In Bezug auf die Datenverwaltung bedeutet dies, Interoperabilität, Portabilität und Nutzer*innenkontrolle von Daten durchzusetzen, damit diese zwischen Anbietern wechseln und innerhalb der Grenzen bewegen können. Europa sollte die Verantwortlichkeiten erweitern und Daten als ein öffentliches Gut behandeln. Bei Geräten und Software bedeutet dies größere politische und finanzielle Investitionen in Open-Source-Technologie für Netzwerkkomponenten und Halbleiter.

Die technologische Resilienz der EU und ihrer Mitgliedsstaaten sowie deren Fähigkeit, Werte zu schaffen, werden dadurch gekennzeichnet sein, dass sie Prioritäten setzen und Bereiche auswählen, die sie dominieren werden, und solche, zu denen sie Bedingungen aushandeln. Mit technologischen Eigenentwicklungen kann sich die EU von risikoreichen Schwachstellen emanzipieren. Die Entwicklung von Open-Source-Software wie O-RAN, einer interoperablen Basis für 5G-Geräte, könnte helfen, das Monopol des chinesischen Tech-Giganten Huawei und dreier anderer Akteure auf dem Gebiet der 5G-Infrastruktur zu brechen. GAIA-X, ein föderierter europäischer Cloud-Standard, zielt darauf ab, mehr Wettbewerb, Datenportabilität und Nutzer*innenkontrolle zu schaffen. Andere könnten entstehen – zum Beispiel in Zusammenarbeit mit den USA bei der Entwicklung der High-End-Chip-Fertigung, die Europas Ökosystem von Halbleiterwerken in ein globales Chip-Konsortium innerhalb des euro-atlantischen Raums einbringt. Technologischer Vorsprung hängt von Ökosystemen ab, die langlebig sind und weder schnell aufgebaut noch zerstört werden können. Das gilt auch für die USA, die in der Computerindustrie und im Cloud-Computing vorherrschend sind. Aus diesem Grund widmet sich China seit mehr als einem Jahrzehnt groß angelegten Industrialisierungsprojekten, um einheimische Technologiekapazitäten zu schaffen, und ist dabei in Bereichen wie mobile Geräte, soziale Medien und E-Payment-Systeme erfolgreich, sieht sich aber in anderen Bereichen wie der modernen Halbleiterproduktion mit Schwierigkeiten konfrontiert. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen gewissenhaft definieren, wo technologische Eigenständigkeit notwendig ist und wo alternativ Strategien zur Schadensbegrenzung, welche Interdependenz und Resilienz erzwingen, besser geeignet sind.

Dazu wird auch eine ehrliche Bewertung der Industriepolitik innerhalb des EU-Rahmens nötig sein. Die Mitgliedsstaaten ziehen es immer noch vor, Technologiebranchen innerhalb ihrer eigenen nationalen Grenzen zu fördern. Schwieriger ist es, eine Innovation außerhalb der eigenen Landesgrenzen zu finanzieren. So stellt sich beispielsweise die Frage, wie Deutschland die deutschen Steuerzahler*innen am besten davon überzeugen kann, dass es sich lohnt, im Namen der europäischen digitalen Souveränität Milliarden für die Unterstützung von Quantenfähigkeiten in Frankreich oder KI in Italien auszugeben.

Regeln mit globalem Anspruch durchsetzen

Drittens: Wie kann Europa seine Fähigkeit, die globalen Regeln der Tech-Governance zu gestalten, durch Konsequenzen ergänzen, die greifen, wenn diese Regeln verletzt werden? Europa spielt eine wichtige Rolle bei der Gestaltung des globalen regulatorischen und normativen Rahmens. Die EU konnte eine Technologiepolitik auf nationaler Ebene entwickeln, zunächst beim Schutz persönlicher Daten und aktuell bei der Bekämpfung illegaler Online-Inhalte oder hinsichtlich KI und Cloud Computing. Und sie hat diese Regeln dann erfolgreich auf europäischer Ebene kodifiziert. Viele dieser Initiativen sind zu Goldstandards für die globale Tech-Regulierung geworden.

Aber Verstöße gegen diese Regeln – sei es in Form von Techno-Autoritarismus wie dem KI-gesteuerten Panoptikum von Xinjiang, Diebstahl von geistigem Eigentum, Cyberangriffen und anderen aktiven Maßnahmen – wurden von Europa oder gleichgesinnten Ländern nicht mit der notwendigen Konsequenz beantwortet. Autoritäre Staaten– wie China, Russland und ihre Partner – wurden nicht rechtzeitig mit angemessenen Maßnahmen konfrontiert. Dazu gehören entsprechende Sanktionen, Exportkontrollen, der Ausschluss vom europäischen Markt, der Ausschluss aus der europäischen Universitäts- und Forschungslandschaft sowie aus Gremien zur Festlegung technischer Standards. Selbst in einem so banalen Bereich wie der digitalen Besteuerung ist die Fähigkeit der EU und ihrer Mitgliedsstaaten, Unternehmen – insbesondere Big-Tech-Unternehmen wie Amazon und Apple – zur Steuerzahlung zu zwingen, an Lobbyarbeit und festgefahrenen Governance-Diskussionen auf OECD- und EU-Ebene gescheitert. Dabei sind bereits zahlreiche geoökonomische Maßnahmen festgeschrieben. Sie reichen von einem EU-weiten Sanktionsinstrumentarium für Cyberangriffe bis hin zu einer Höchststrafe gegen Unternehmen von bis zu 4 Prozent ihres weltweiten Jahresumsatzes bei Verstößen gegen die Datenschutz-Grundverordnung. Aber diese Instrumente wurden noch nie in einer Weise eingesetzt, dass sie zukünftige Verstöße verhindert hätten.

Das bedeutet auch, dass die EU, die europäischen Demokratien und gleichgesinnte Staaten das kollektive Kampfgewicht der Marktgröße, des Marktzugangs und ihrer industriellen Basis nutzen müssen. Sie müssen ihre Offenheit untermauern, indem sie Regeln, Werte, Wechselseitigkeit und Zugang als sich gegenseitig verstärkende Instrumente zur Gestaltung eines demokratischen Technologieraums miteinander verbinden. Die OECD-Länder machen rund 50 Prozent des globalen BIP aus; die EU und die USA allein repräsentieren 42 Prozent des globalen BIP und 41 Prozent des globalen Handels. Europa kann neue multilaterale und stärker normative Mechanismen und Ziele in Betracht ziehen, um eine strategisch solide Basis für die Nutzung der kombinierten Marktmacht der EU, der USA, Großbritanniens, Japans und anderer gleichgesinnter Staaten zu schaffen. Zu den Bemühungen könnte die Angleichung von technologischen und digitalen Marktzugangsinstrumenten gehören, wie Investitionsprüfung, Exportkontrollen, Nutzung geschützten Wissens, Kooperation bei Forschung und Entwicklung und akademische Zusammenarbeit im Dienste von Demokratie, Menschenrechten und wirtschaftlicher Sicherheit. Ein Vorschlag lautet, dass gleichgesinnte Länder ein Koordinationskomitee für multilaterale Exportkontrollen (CoCom) für das 21. Jahrhundert gründen, um den Zugang zu strategischer Technologie für autoritäre Staaten zu beschränken. Europa muss bereit sein, kollektive Maßnahmen zu ergreifen, um Regeln und Konsequenzen als abschreckendes Element durchzusetzen.

Was ist die Killer-App der europäischen Technologiepolitik?

Und schließlich: Wie können die europäischen Demokratien sich mit ihrem Technologieansatz zentral zwischen ihren Partnern positionieren? Die globale Wettbewerbsfähigkeit und Sicherheit Europas wird davon abhängen, den Zugang zu und die Kontrolle über Schlüsseltechnologien wie KI, 5G-Technologie und Halbleiter aufrechtzuerhalten. Digitale Souveränität als merkantilische Abschottung wird wahrscheinlich nicht erfolgreich sein.

Ein alternativer Ansatz wäre der Aufbau von Resilienz durch starke Allianzen, die auf dem Bekenntnis zu gemeinsamen demokratischen Normen und Werten beruhen. Durch den Zusammenschluss mit gleichgesinnten Akteuren bietet sich die Möglichkeit, Schwachstellen zu reduzieren und die Handlungsfähigkeit Europas voranzutreiben. Der Zugang und die Kontrolle über diese Schlüsseltechnologien müssen durch eine Tech-Diplomatie in der gesamten demokratischen Welt erreicht werden, die europäische Werte wie Offenheit, Regeltreue und gezielte Unterstützung von Innovationsunternehmen stärkt. Hier hat Europa einen Vorteil. Seine geopolitische Stärke resultiert aus seiner Vernetzung. Europas Demokratien sind geopolitisch überdurchschnittlich erfolgreich. Das verdanken sie den Bündnissen, denen sie angehören, allen voran der EU und dem transatlantischen Bündnis, sowie ihrer Einbettung in die Weltwirtschaft. Europas langjährige Fähigkeit, sich als geeinte Macht in die Mitte des internationalen Systems zu stellen, ist seit langem seine »Killer-App« im Weltgeschehen.

Damit eine europäische digitale Gesamtstrategie Erfolg hat, müssen die EU und die europäischen Demokratien geoökonomische Bündnisse mit gleichgesinnten Staaten vertiefen, um die Regeln für Daten, Algorithmen und Lieferketten mit Zugang zu Märkten, Investitionen und Wissen als Anreiz dafür zu schaffen, eine regelbasierte digitale Ordnung zu entwickeln. Indem sie ein weit verzweigtes Netzwerk von Tech-Allianzen aufbauen, das sich um die EU, das euro-atlantische Bündnis und den breiteren demokratischen Raum gruppiert, können sich die europäischen Staaten am besten positionieren, um diese neue digitale Ära zu meistern.

Bereits 1999 behauptete Lawrence Lessig »Code is Law«, also dass Programmierer Wertesysteme in Technologien einschreiben. Über 20 Jahre später lebt Europa in der geopolitischen Landschaft, die diese Wegbereiter geschaffen haben. Einstige Start-ups haben sich zu Super-Giganten entwickelt, die immer mehr Daten und Marktanteile an sich reißen. Heute ist Code mehr denn je Macht. Diese Macht wieder an ein werte- und rechtebasiertes System zu binden, das sich am Gemeinwohl orientiert, könnte der größte Beitrag Europas zum digitalen Zeitalter sein.

Bibliografische Angaben

Barker, Tyson. “Geopolitische Diplomatie und die europäische Digitalstrategie.” September 2021.

Veröffentlicht in Chris Piallat (2021) Der Wert der Digitalisierung. Gemeinwohl in der digitalen Welt, transcript Verlag, S. 415-431. ISBN 978-3-8376-5659-6.

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