Online Kommentar

07. Juni 2022

Eine Starthilfe für die europäische Rüstungswende

Die russische Bedrohung ist konkret geworden. Mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr könnte Deutschland jetzt die europäische Verteidigung greifbar voranbringen.

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Während Deutschland mit der Verabschiedung des Sondervermögens für die Bundeswehr national zum Quantensprung ansetzt, verliert es in Europa an Vertrauen und Einfluss. Dabei bietet sich derzeit die größte Chance seit Jahrzehnten, um die europäische Verteidigung zu stärken. Der Ukraine-Krieg liefert nicht nur die offensichtliche Begründung für mehr Engagement der Europäer, sondern ganz praktisch auch die Möglichkeit, die europäische Streitkräfte schnell und umfassend mit identischem und modernem Material auszurüsten – eine Grundbedingung für mehr Kooperation unter Armeen. 

Deutschland sollte deswegen eine europäische Rüstungsinitiative auflegen: Bundesregierung und deutsche Industrie garantieren den Alliierten in EU und Nato, dass sie mit einheitlichem, modernem Material vor allem im Heeresbereich ausgestattet und für die nächsten 20 Jahre versorgt werden. Mit einem glaubhaften Angebot als rüstungsindustrieller Anlehnungspartner könnte Berlin aus der aktuellen politischen Defensive bei den Waffenlieferungen herauskommen und Vertrauen zurückgewinnen. Gleichzeitig kann es die europäische Rüstung greifbar voranbringen.

Mehr Kooperation war bislang ein hohles Mantra, das Europa und vor allem die EU nicht eingelöst haben. Dabei wissen europäische Regierungen seit Jahrzehnten, dass sie sich ihre Rüstungskleinstaaterei nicht mehr leisten können, dass es eine große Modernisierungslücke zwischen den Armeen in Ost- und Westeuropa gibt, und dass es die militärische Zusammenarbeit im Einsatz erleichtert, wenn Gerät gemeinsam geplant, hergestellt und betrieben wird.

Die Ukraine-Lieferungen schaffen Platz für modernes Material

Doch der nationale Reflex – vor allem im Rüstungsbereich – verhinderte bislang, dass die Staaten diese Potenziale durch mehr Europäisierung bei Streitkräften und Rüstung nutzen. Jeder Staat möchte seine besonderen Bedürfnisse in einem Rüstungsprojekt abgebildet sehen und ist auch selten bereit, Kompromisse beim Zeitpunkt der Bestellung zu machen. So entstanden in Europa, gerade im Heeresbereich, unzählige kostspielige nationale Insellösungen, die auch militärisch die Kooperationspotentiale nicht nutzen, etwa bei Kampf- und Schützenpanzern.

Doch der Krieg in der Ukraine verändert zentrale Parameter: Auch wenn Europa nie eine einheitliche Bedrohungswahrnehmung haben wird, so gibt es doch deutlich mehr Einigkeit angesichts der russischen Bedrohung. Zudem war die Begründung, warum es moderne Streitkräfte braucht, nie so offensichtlich wie in diesen Tagen.

Die Waffenlieferungen an die Ukraine schaffen Platz für modernes Material. Die Staaten geben zunächst vor allem veraltetes ex-sowjetisches Material, zum Beispiel T-72 Panzer ab. Diese Lücken können sie nun durch moderne Systeme füllen und schließen so ihre Modernisierungslücke. Wenn die Staaten nun auch ihre Beschaffung aufeinander abstimmen, können sie zusätzlich untereinander kompatible Produkte kaufen und so die Schlagkraft ihrer Armeen erheblich anheben. Es geht aber nicht nur um neue Panzer: Fähigkeiten zur Flug- und Raketenabwehr oder elektronischer Kampfführung fehlen bei allen Europäern.

Es ist absehbar mehr Geld im System

Beim Ringtausch zeigen die Streitkräfte ungeahnte Flexibilität: In Friedenszeiten hatte man sich mit Händen und Füßen gegen einheitliche Standards auf europäischer Ebene gewehrt. Nun entscheiden sich die Armeen, über Nacht Waffen einzuführen, die in den nationalen Rüstungsplänen gar nicht vorkommen, etwa deutsche Leopard-Panzer, die Tschechien jetzt als Ersatz für seine abgegebenen sowjetischen Panzer erhält.

Und schließlich wollen, als Reaktion auf die russische Bedrohung, neben Deutschland eine Reihe anderer Staaten ihre Verteidigungsbudgets erhöhen. Damit ist absehbar mehr Geld im System. Zudem hat die Europäische Kommission just einen Vorschlag veröffentlicht, wie sie zusätzlich mit europäischem Geld und Strukturen helfen kann, die neuen und alten Lücken in Europa zu schließen.

Die Bundesregierung hat mit der Zeitenwende ambitionierte Ziele für die Verteidigungspolitik ausgerufen: Die Bundeswehr soll die leistungsfähigste Armee Europas werden. Zudem möchte sie gemäß ihres Koalitionsvertrages, wie viele Generationen von Regierungen und Parlamenten vor ihr, die Zusammenarbeit der Armeen Europas stärken, unter anderem bei Fähigkeiten und Ausrüstung.

Und schließlich wollen, als Reaktion auf die russische Bedrohung, neben Deutschland eine Reihe anderer Staaten ihre Verteidigungsbudgets erhöhen. Damit ist absehbar mehr Geld im System. Zudem hat die Europäische Kommission just einen Vorschlag veröffentlicht, wie sie zusätzlich mit europäischem Geld und Strukturen helfen kann, die neuen und alten Lücken in Europa zu schließen.

Die Bundesregierung hat mit der Zeitenwende ambitionierte Ziele für die Verteidigungspolitik ausgerufen: Die Bundeswehr soll die leistungsfähigste Armee Europas werden. Zudem möchte sie gemäß ihres Koalitionsvertrages, wie viele Generationen von Regierungen und Parlamenten vor ihr, die Zusammenarbeit der Armeen Europas stärken, unter anderem bei Fähigkeiten und Ausrüstung.

Deshalb sollte Deutschland die einmalige Chance nutzen und sich als militärisches und industrielles Rückgrat der europäischen Verteidigung anbieten und Kooperation forcieren. Die Initiative kann auf drei Pfeilern ruhen: erstens militärische Anlehnungspartnerschaft, zweitens industrielle Versorgungsgarantien und drittens das Sondervermögen Bundeswehr.

Den militärisch-politischen Rahmen kann eine Neuauflage des sogenannten Rahmennationenkonzeptes bieten. Darin fungiert die Bundeswehr bereits als Anlehnungspartner für mittel- und osteuropäische Streitkräfte, um militärische Großverbände zu organisieren. Dieses Konzept sollte geografisch auf Nordeuropa, vor allem Schweden und Finnland, ausgedehnt werden. Bestehende bilaterale Kooperationen wie mit Ungarn sollten in den größeren Rahmen integriert werden.

Um die europäische Chance im Rüstungsbereich zu nutzen, sollte Deutschland das Rahmennationenkonzept auf den Bereich gemeinsamer Beschaffung und industrieller Versorgung ausweiten. Deutschland würde als rüstungsindustrielle Rahmennation die Vereinheitlichung von militärischem Gerät und die Integration von industrieller Produktion, Instandhaltung und Lieferketten sicherstellen. Die Regierung könnte gemeinsam mit der Industrie den Partnern eine industriell-technologische Verfügbarkeitsgarantie für die nächsten 20 Jahre geben. Dies würde Kosten senken, Unternehmen auslasten und Planungs- und Versorgungssicherheit für alle schaffen.

Der Krieg unterstreicht den Nutzen von Allianzen

Von dieser Ausweitung würden Staaten, aber auch ihre Industrien erheblich profitieren: Es ist selbstverständlich, dass Unternehmen in anderen Staaten in dieses neu entstehende industriell-technologische Ökosystem eingebunden werden. Deutschlands Rüstungsindustrie im Bereich der Landfahrzeuge würde aufgrund ihrer Größe und Kompetenz das Rückgrat stellen und die Integration der Partner bewerkstelligen. Für die Industrie entstünde so ein sicheres Geschäft: Ein fester Stamm von Kunden unter den EU- und Nato-Staaten würde für Jahrzehnte geschaffen. Auch für Kritiker deutscher Rüstungsexporte sind diese Destinationen weitgehend akzeptabel.

Das Sondervermögen agiert als Starthilfe: Mit ihm sollten bestehende Waffensysteme weiterentwickelt und teilweise neu gebaut werden, die Deutschland für die Nato fehlen. Deutschland sollte den anderen EU- und Nato-Staaten jetzt anbieten, in diese Entwicklung einzusteigen. Dies ist für sie attraktiv, weil die Entwicklungen finanziell über das Sondervermögen abgesichert sind. Das Risiko eines Scheiterns ist geringer. Zudem dürften erhebliche Skaleneffekte die Preise für die Produkte und deren Betrieb drücken.

Diese Chance, europäische Verteidigung voranzubringen, besteht wahrscheinlich nur in diesem Jahr. Andere füllen bereits die Lücken an Rüstungsgütern, allen voran die USA, und stellen damit die rüstungspolitischen Weichen in Mittel- und Osteuropa auf Jahrzehnte.

Der Krieg in der Ukraine unterstreicht den Nutzen von Allianzen. Er zeigt aber auch, dass Europa nicht nur große Reden braucht, sondern konkrete Projekte, durch die es lebt und sich entwickelt. Deutschlands politische Glaubwürdigkeit sowie die militärische Leistungsfähigkeit und finanzielle Effizienz Europas würden sehr davon profitieren, wenn Berlin die deutsche Rolle in Europa konkret und systematisch als militärisch-industrielle Rahmennation ausgestalten würde.

Bibliografische Angaben

Mölling, Christian, and Torben Schütz. “Eine Starthilfe für die europäische Rüstungswende.” June 2022.

Dieser Text wurde zuerst am 01. Juni 2022 von Die Zeit veröffentlicht. 

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