Online Kommentar

22. Febr. 2022

Die Aufklärung fängt erst an

Nie stand so viel auf dem Spiel wie heute, nie wusste der Mensch mehr über eine Krise. Warum handeln Gesellschaften nicht entsprechend?

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Im November 2009, kurz vor der gescheiterten Klimakonferenz in Kopenhagen (COP15), erschütterte ein vermeintlicher Wissenschaftsskandal („Climategate“) die Welt: Eine skrupellose Clique innerhalb der rauen britischen Medienlandschaft verdrehte gehackte Emails von Forschern der University of East Anglia so lange, bis sie als Belege für die allgemeine Manipulationsbereitschaft der Klimawissenschaft dienen konnten. Nun war Blut im Wasser voller Haie: Nur zwei Monate später spießte die Sunday Times einen Flüchtigkeitsfehler im über 3000 Seiten starken 4. Sachstandsbericht des Weltklimarats (IPCC) von 2007 auf. Dort wurde ohne wissenschaftlichen Beleg vermerkt, dass die mächtigen Himalaya-Gletscher bis 2035 abgeschmolzen sein dürften. In der Folge mussten der IPCC um seine Existenz und die Umweltforschung weltweit um ihre öffentliche Glaubwürdigkeit kämpfen.

Letztere ist paradoxerweise erst durch die von Greta Thunberg ausgelöste „Fridays-for-Future“-Jugendbewegung wieder ganz hergestellt worden. Und ironischerweise hat die jüngste Klimaentwicklung die Wirklichkeit näher an die tollpatschige Prognose aus dem Jahr 2007 herangerückt: In einem kürzlich erschienenen Artikel des Klimaforschers Mariusz Potocki wird gezeigt, dass der höchste Gletscher des Mt. Everest (South Col Glacier, 8020 Meter) in den letzten 25 Jahren etwa 55 Meter an Dicke verloren hat und dass er bei diesem Tempo in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein wird! Nur die quantitative Wissenschaft kann auf der Basis mühsam aufgespürter Naturgesetze solche Blicke in die Zukunft werfen. Manchmal sind die Teleskope beziehungsweise ihre Nutzer überfordert und kommen zu falschen Schlüssen. Aber ohne diese Projektionsmaschinerie wären wir so zukunftsblind wie die Jäger und Sammler der letzten Eiszeit.

Neun Billionen für die Zukunft

Dabei benötigen wir heute jeden Zentimeter Voraussicht, denn der Fortbestand der Zivilisation, wie wir sie kennen, ist ernsthaft gefährdet. Vor etwa einem Jahrzehnt erschien das Gutachten Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU). Dort wurden die notwendigen sozioökonomischen Umbrüche für die globale Nachhaltigkeitswende beschrieben. 2022 hat die Beratungsfirma McKinsey nachgelegt und in einer umfassenden Studie dem Primärziel dieser Großen Transformation, der Dekarbonisierung unseres Weltwirtschaftssystems, ein Preisschild verpasst: Bis 2050 braucht es jährlich schätzungsweise9,2 Billionen US-Dollar an Kapitalausgaben für die entsprechende Umstellung von Energiesystemen, Industrieprozessen und Landnutzungspraktiken. „Billionen“ sind hierbei kein Übersetzungsfehler – diese gewaltige Summe ist laut McKinsey erforderlich, um die globale Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Gesamtgesellschaftlich und langfristig würde sich diese Investition zweifellos lohnen, aber das Individuum im Jetzt reagiert hier fast zwangsläufig mit Abwehrreflexen.

Deshalb sind bisher fast nirgendwo politische Schritte getan worden, um auch nur einen Scheitelpunkt der globalen CO2-Emissionen zu bewirken. Selbst in Deutschland hinkt die Energiewende zu erneuerbaren Quellen allen problemgerechten Zeitplänen hinterher. Das zementiert nicht zuletzt unsere Abhängigkeit von den Exporteuren fossiler Energieträger. Was angesichts der näherkommenden Klimaeinschläge fatal ist: Extremwetterereignisse wie die verheerendeAhrtalflut, die letztes Jahr 134 Menschen das Leben kostete, werden nachweislich immer wahrscheinlicher. „Fehlender Klimaschutz“ führt folgerichtig die Liste bedrohlicher Fehlentwicklungen des aktuellen Risikoberichts des Weltwirtschaftsforums an.

Abschaffung fossiler Subventionen

Gleichzeitig kann die Wissenschaft nicht nur die Folgen der ungebremsten Erderwärmung immer besser kartieren, sondern auch die zahlreichen möglichen Wege aus der Klimafalle: Insbesondere müssen die überreifen „low-hanging fruits“ wie die endgültige Abschaffung fossiler Subventionen rasch gepflückt werden. 

Wenn es also nicht an Wissen und Risikowahrnehmung mangelt, warum handeln Gesellschaften nicht entsprechend? Nun, weil es immer einen kleinen, nahegelegenen Problemhügel gibt, der sich schneller, gewinnbringender und beifallsträchtiger bezwingen lässt als das Hochgebirge der Transformationsaufgabe. Nur allzu gerne verlieren wir uns in den sanften Erhebungen am Fuße des Massivs und genießen den Ausblick nach unten wie oben.

Diese Verantwortungslosigkeit gegenüber unseren Nachkommen wird ermöglicht und verfestigt durch eine unausgesprochene Komplizenschaft zwischen Politik und Wahlvolk: Wer das Programm mit den geringsten Zumutungen vorlegt, wird zur Belohnung ins Amt gehoben. Aber nun dämmert es beiden Seiten, dass in den nächsten Jahrzehnten Unerhörtes geschehen muss, wenn das Menschheitsprojekt noch eine Chance haben soll. Was wiederum gerade jetzt, da in den Corona-Wirren die Energiepreise in die Höhe schießen, die Popularität der entsprechend handelnden Regierung nicht steigern dürfte. Doch das Stichwort „Corona“ deutet auch darauf hin, dass dieser Teufelskreis durchbrochen werden muss und kann.

Blut des erschlagenen Drachen 

Durch intensive Wissensvermittlung im Zusammenspiel von Politik und Forschung wurde die breite Mehrheit der Bevölkerung in praktisch allen demokratischen Ländern für die notwendigen Maßnahmen des Infektionsschutzes gewonnen. Wem dies gelingt, der kommt nicht nur ins Amt, der kann sich dort auch halten. Das Zeitalter der Aufklärung hat nämlich erst begonnen – auch wenn die Digitalisierung der gesellschaftlichen Kommunikation zunächst durch neue Sümpfe der Propaganda und Manipulation führen dürfte. Aber bald werden wir uns hoffentlich wieder darauf verständigen, besser „längs“ als „quer“ zu denken.

Niemals zuvor in der Menschheitsgeschichte stand für so viele so viel auf dem Spiel, aber niemals zuvor gab es auch so viele fundierte Kenntnisse und Möglichkeiten, diese Einsichten zielgenau zu vertiefen. Eine zukunftsfähige Gesellschaft muss immer wieder in wissenschaftlicher Evidenz gebadet werden, im „Blut des erschlagenen Drachens namens Aberglaube“. Nicht nur, um bessere individuelle und kollektive Entscheidungen zu treffen, sondern auch um sich gegen totalitäre Anfechtungen von innen und außen zu schützen. Dies gilt in der Jahrhundertkrise Klimawandel genauso wie in der Dekadenkrise Corona.

In beiden Fällen ist für manche Menschen die Versuchung groß, sich aus der harten Wirklichkeit in bequeme Agnostik oder Esoterik zu flüchten, welche die Leugner und Verschwörer in den „sozialen“ Netzen anbieten. Wenn dann einmal ein zufälliges Lindenblatt (siehe „Climategate“) eine verwundbare Stelle bewirkt, müssen die seriösen Medien dafür sorgen, dass die Feinde der Aufklärung dies nicht für einen tödlichen Angriff nutzen können.

In diesem Sinne begrüßen wir das neue Ressort „Grünes Wissen“ beim Freitag und wünschen dem Projekt den größtmöglichen Erfolg!

Bibliografische Angaben

Vinke, Kira. “Die Aufklärung fängt erst an.” February 2022.

Dieser Text ist ein OpEd von Dr. Kira Vinke und Prof. Hans Joachim Schellnhuber und wurde zuerst am 16. Februar 2022 von der Freitag veröffentlicht. 

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