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12. März 2020

Abschied vom territorialen Asyl

Wer europäisches Staatsgebiet erreicht, darf dort einen Asylantrag stellen. Dieses grundlegende Prinzip hat Griechenland nun ausgehöhlt. Das ist eine historische Zäsur.

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Das Treffen des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel endete wie erwartet ohne Durchbruch. Der Außenbeauftragte Josep Borrell soll nun gemeinsam mit der türkischen Seite die EU-Türkei-Erklärung unter die Lupe nehmen und klären, wo es hakt. Die Liste dürfte lang werden. Eins aber ist klar: Das Pokerspiel der Türkei, die Grenze zur Europäischen Union nicht länger wie vereinbart zu schützen, ist erst einmal gefloppt. Denn die Erpressungstaktik basierte auf dem Glauben, Europa würde ähnlich reagieren wie 2015.

Doch es gibt drei Unterschiede zum Spätsommer 2015. Der offensichtlichste: Die Bilder schockieren nicht mehr. Menschen - viele davon Kinder - die bei Kälte und Regen an den Rändern Europas ausharren. Tränengas an den Grenzen. Abgedrängte Boote vor Lesbos. Vor fünf Jahren reichten die Bilder von am Budapester Bahnhof campierenden Flüchtlingen noch aus, um in Deutschland eine vorher nicht gekannte Willkommenskultur auszulösen. Heute ist unsere Gesellschaft dem Leid der Menschen gegenüber, die zum Spielball migrationspolitischer Interessen werden, merklich abgestumpft.

Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Zwischen 2015 und 2020 liegen Wahlerfolge migrationsfeindlicher Parteien in fast allen Ländern Europas. Bilder von den katastrophalen Zuständen auf den griechischen Inseln sind in den letzten Jahren normal geworden. Die migrationspolitischen Debatten Europas sind derweil ermüdend uneinig und gelähmt. Außer im Bereich des Grenzschutzes: Hier hat die EU aufgerüstet. Das ist der zweite Unterschied. Im Vergleich zu 2015 haben Griechenland und die EU heute ein anderes Arsenal an Grenzschutzkapazitäten. Die letzten Tage haben klar gezeigt: Türkische Grenzsoldaten mögen Migranten passieren lassen - griechische jedoch nicht. Griechenlands Premierminister Mitsotakis lobte am 9. März in Berlin seine Küstenwache und betonte: "Die Entscheidung, unsere Grenzen zu schützen, war richtig."

Unterstützung sichert Kommissionspräsidentin von der Leyen zu: finanzielle Hilfen von 700 Millionen Euro und Verstärkung durch Frontex durch weitere 100 Grenzschutzbeamte. Untermalt ist diese Reaktion mit kriegerischer Rhetorik, die Griechenland als "Schild" der EU bezeichnet. Trotz vielseitigen Entsetzens von Menschenrechtlern und den Vereinten Nationen: Staaten können heute davon ausgehen, für hartes Vorgehen gegen Migranten an der Grenze keinen Tadel, sondern Beifall zu ernten. Und das nicht nur von ganz rechts.

Der dritte und wichtigste Unterschied zu 2015 ist jedoch, dass Europa heute das grundlegende Prinzip des territorialen Asyls aushöhlt, demzufolge ein Erreichen des Staatsgebiets dazu berechtigt, einen Antrag zu stellen. Der Paukenschlag Griechenlands, bei der Asylantragstellung die Pausetaste zu drücken, ist historisch in Europa. Aber auch dieser Schritt ist nur einer von vielen, die wir in den letzten Jahren weg vom territorialen Asyl gemacht haben. Seit Monaten häufen sich Berichte über sogenannte Pushbacks, also das illegale Zurückschieben von Menschen ohne die Möglichkeit eines Asylverfahrens, an der kroatischen und griechischen Grenze.

Vor wenigen Wochen entschied der Europäische Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg zudem, dass es rechtens war, zwei Migranten, die 2014 den Zaun zur spanischen Enklave Ceuta überwunden hatten, ohne individuelles Asylverfahren zurück nach Marokko zu schicken. Ein Grundsatzurteil, das in der Zukunft den Weg für ähnliche Fälle weisen könnte. Auch international steht das territoriale Asyl unter Beschuss. In den USA lässt Präsident Trump Zehntausende Asylsuchende in Mexiko warten, während über ihren Asylantrag entschieden wird. Australien war in diesem Bereich sogar trauriger Trendsetter. Das Land hält Asylsuchende schon seit Jahren auf pazifischen Inseln von seinem Staatsgebiet fern.

Das territoriale Asyl hat in der Tat zwei Schwächen. Erstens bekräftigt es das Recht des Stärkeren, denn schutzbedürftige Personen können nur dann einen Antrag stellen, wenn sie die gefährliche Reise ins Zielland schaffen. Dies benachteiligt Frauen, Kinder, Familien und andere vulnerable Gruppen. Zweitens begünstigt es den langfristigen Aufenthalt, selbst wenn kein Schutz festgestellt wird. Da rechtsstaatliche Asylverfahren lange dauern und die Rückführungen oft nicht funktionieren, können auch nicht schutzbedürftige Personen oft lange im Zielland bleiben, wenn sie die Grenze erst einmal überwunden haben.

Die große Herausforderung bleibt am Ende, dass genügend Länder Menschen auf geordnetem Weg zu sich holen

Doch Alternativen gibt es nur wenige. Außerhalb des territorialen Asyls können zwei Modelle einer großen Anzahl von Menschen Schutz geben: Zum einen kann UNHCR zentral in Erstaufnahmelagern Flüchtlingsstatus zusprechen. Wer einen Schutzanspruch hat, wird dann in ein aufnahmebereites Land in Europa oder anderswo umgesiedelt. Dieses Modell ist unter dem englischen Namen "Resettlement" bekannt. Zum anderen können Schutzsuchende direkt bei den Botschaften der Zielländer sogenannte humanitäre Visa beantragen.

Beide Modelle haben den Vorteil, dass Schutzsuchende sich nicht den Gefahren der Reise aussetzen müssen, um ihren Schutzanspruch geltend zu machen. Doch beide bergen auch dasselbe Risiko: Wenn es keinen tatsächlichen Aufnahmewillen in den Zielländern gibt, schaffen sie nur ein weiteres dysfunktionales System. Das ist heute der Fall: Das Resettlement krankt seit Jahren an fehlenden Plätzen, sodass Flüchtlinge trotz ihres Status unter teils unwürdigen Bedingungen jahrzehntelang in Lagern feststecken. Und auch humanitäre Visa sind nur dann eine wirkliche Alternative, wenn die Botschaften personell ausreichend ausgestattet und politisch instruiert sind, tatsächlich Anträge in substanziellem Umfang zu bearbeiten und Visa auszustellen.

Die große Herausforderung bleibt am Ende also immer, dass genügend Länder ihre Türen öffnen und die Menschen auf geordnetem Weg zu sich holen müssen. Die hässliche Wahrheit aber ist: Es gibt immer weniger Länder, die bereit sind, Menschen in Not aufzunehmen, während es gleichzeitig immer mehr Schutzsuchende gibt, die immer länger vertrieben bleiben.

Europa sollte jetzt drei Dinge tun. Erstens sollte es versuchen, die EU-Türkei-Erklärung wiederzubeleben. Das bedeutet substanzielle Finanzhilfen für die Versorgung der 3,7 Millionen Flüchtlinge in der Türkei, aber auch geopolitisches Gewicht, das Europa mit Blick auf den Syrien-Konflikt in die Waagschale werfen sollte. Zweitens sollten europäische Länder Menschen notevakuieren. Nach tagelanger Diskussion signalisierte die große Koalition, Deutschland sei bereit, gemeinsam mit einer Koalition der Willigen aus anderen EU-Mitgliedsstaaten zwischen 1000 und 1500 Kinder von den griechischen Inseln aufzunehmen. Dieser Schritt ist ein menschenrechtlich richtiges Signal, aber auch nicht mehr, denn eine Aufnahme dieser Größenordnung ändert nichts an der Überfüllung der griechischen Inseln. Auch die Situation an der griechisch-türkischen Grenze bleibt davon unberührt.

Der dornigste ist der dritte Punkt: Europa muss sich eingestehen, dass all dies technische und kurzfristige Lösungen sind, die das politische Problem langfristig nicht lösen können. Nicht wenige Politiker und Experten setzen darauf, dass Brüssels Neuer Pakt für Migration und Asyl Bewegung in das Problem bringt. Diese Erwartung ist jedoch überhöht. Der Pakt wird sicherlich in blumiger Sprache Neuerungen ankündigen, doch tatsächlich neu sein wird wahrscheinlich primär eines: größere Flexibilität für Mitgliedstaaten, sich nach eigenem Belieben in die Lastenteilung einzubringen. Ein "Menü der Möglichkeiten" nannte es Mitsotakis. Das Risiko dabei: Alle dürfen tun, was sie gerne möchten, wie etwa in Grenzschutz zu investieren, aber nur wenige tun das, was nötig ist - tatsächlich Menschen aufzunehmen.

Bibliografische Angaben

Rietig, Victoria, and Mona Lou Günnewig. “Abschied vom territorialen Asyl.” March 2020.

Dieser Artikel ist als Gastbeitrag erschienen in Die Welt am 11. März 2020

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